1933
Die Situation der Evangelischen Kirche in Deutschland
Die Evangelische Kirche als Teil der deutschen Gesellschaft unterlag all den politischen und kulturellen Einflüssen der damaligen Welt.
Antidemokratische, antisemitische und deutschnationale Kräfte standen liberalen, auf der biblischen Grundlage des Evangeliums orientierten Vertreterinnen und Vertretern gegenüber.
1932
Gründung der Glaubensbewegung »Deutsche Christen« (DC),
die sich als innerkirchliche Partei mit dem Ziel verstand:
- Auflösung der von Synoden regierten 29 Landeskirchen
- Schaffung einer nach dem Führerprinzip strukturierten Reichskirche
- »Entjudung«
- Abschaffung des Alten Testaments
- »Reinhaltung der germanischen
- Rasse« durch »Schutz vor Untüchtigen« und »Minderwertigen«
1933
Eine kleine Minderheit innerhalb der Evangelischen Kirche formierte sich zu einer Bewegung gegen die Angriffe auf die theologischen Grundfesten der Kirche: 21.9.1933 Gründung des »Pfarrernotbundes« als Reaktion auf die Übernahme des staatlichen Arierparagraphen
1934
Gründung der »Bekennenden Kirche« (BK) auf der Bekenntnissynode im Mai in Wuppertal-Barmen. • Verabschiedung der »Barmer Theologische Erklärung«. Die Erklärung stellte Jesus Christus als einzigen Glaubensgrund der Kirche dar und wies damit auch den Totalistätsanspruch des Staates und die Vereinnahmung des Evangeliums für politische Zwecke zurück.
Der Kirchenkampf in Pankow
Die Pankower Gemeinde bestand zum damaligen Zeitpunkt aus den drei Teilen
- Alte Pfarrkirche »Zu den Vier Evangelisten«
- Hoffnungskirche
- Lutherhaus Pradelstraße
mit insgesamt 70.000 Gemeindemitgliedern und fünf Pfarrern. Alle fünf Pfarrer standen dem nationalsozialistischen Ideengut der DC kritisch bis ablehnend gegenüber und waren ab 1934 Mitglieder in der Bekennenden Kirche.
Nach seiner Machtergreifung ordnete Adolf Hitler im Juli 1933 GKR-Neuwahlen an. Unter Mobilmachung aller DC-Mitglieder und mit propagandistischer Unterstützung durch Adolf Hitler kam es zur eindeutigen Mehrheit von DC-Mitgliedern im GKR:
14 Mitglieder Deutsche Christen
4 Mitglieder Evangelium und Kirche
Nach dieser Neuwahl werden u. a. folgende Beschlüsse im GKR gefasst:
- den fünf Pfarrern wird die Kontrolle über die Finanzen entzogen
- im Gemeindehaus in der Hadlichstraße wird ein DC-Geschäftszimmer eingerichtet
- das Pankower Gemeindeblatt »Andacht und Arbeit« wird durch das DC-Blatt »Evangelium im Dritten« Reich ersetzt
- alle evangelischen Vereine werden gleichgeschaltet (d.h. Vorsitz und mindestens 50 % des Vorstandes müssen DC sein)
- in der Alten Pfarrkirche und in der Hoffnungskirche finden NS-Massen-trauungen (»Nachtrauungen«) statt, an denen die fünf Pankower Pfarrer nicht beteiligt waren
- alle Ausschüsse der Gemeinde werden aufgelöst und neu besetzt
- die Evangelische Jugend wird in die Hitlerjugend (HJ) eingegliedert
Die fünf Pfarrer verweigerten ihre Teilnahme an einer DC-Festveranstaltung zum Reformationsfest im Lutherhaus.
1928
Beeinflusst durch die neue Sachlichkeit der Weimarer Republik beschloss der GKR, den Kirchenraum grundlegend umzugestalten.
Erich Heckel, Mitbegründer der expressionistischen Künstlergruppe »Brücke« in Dresden, entwarf die farbliche Innengestaltung.
1932
Der Maler Herbert Ortel malte über dem Eingangsportal eine expressionistische Darstellung vom »Gleichnis vom verlorenen Sohn«.
1934
Mehrheitlicher Beschluss des Gemeindekirchenrats auf Entfernung des Bildes: »dieses Bild wäre ›Kitsch und Schund‹ und ›ein Dokument bolschewistischen Niederganges‹ und würde von dem Kirchenvolk, besonders dem nationalsozialistisch denkenden, auf’s entschiedenste abgelehnt. Und es wurde die Absicht geäußert, anstelle dieses Bildes ein Kreuz mit Hakenkreuz anbringen zu lassen. …« Brief, Pfarrer Maresch an das Konsistorium
Aus dem Gutachten von Heinrich Vogler, Gutachter des ev. Kunstamtes: „Das Bild ist gerade darin echt protestantische Kirchenkunst, dass es lediglich das Wort der Heiligen Schrift, hier das Gleichnis vom verlorenen Sohn, vor die Augen malen will und zwar so, dass das Bild nur ein Dienst am Wort ist. So macht sich diese Darstellung nicht selbst zu einem Transparent des Göttlichen, sondern dient dem Wort der Heiligen Schrift. Es ist ein menschlicher Vater, der sich hier über die Heimkehr des verlorenen Sohnes neigt und einer Gebärde, die um die ganze Verlorenheit dieses verwüsteten Lebens weiß und dennoch ohne jeder Vorbedingung den Heimkehrenden aufnimmt. Welch eine wahrhaft erschütternde Darstellung hat die Verlorenheit, das von der Schuld eines verwüsteten Lebens gezeichnete, in seinen Lumpen nackte und bloße Elend dieses Sohnes in Ortels Gestaltung gefunden.“
Das Bild trotz des Gutachtens und Protesten aus der Gemeinde im Mai 1934 abgekratzt. Das Anbringen eines Hakenkreuzes konnte jedoch verhindert werden.
Reinhold Krause, Gauobmann der DC, seit 1928 Mitglied in kirchlichen Gremien in Pankow und seit 1932 Mitglied im GKR Pankow, hielt die Hauptansprache im Berliner Sportpalast vor namhaften kirchlichen Vertretern und etwa 20.000 Besuchern. Mit wüsten Beschimpfungen gegen die Amtskirche und deren »abgehobenen volksfernen Pfarrer« erntete er immer wieder kräftigen Applaus. Von Martin Luther sollte gelernt werden, dass die Juden nicht Gottes Volk wären und das Alte Testament nicht aus Gottes Gnade stamme, sondern aus Menschenwerk. Das Alte Testament mit seiner »jüdischen Lohnmoral und seinen Viehhändler- und Zuhältergeschichten« gehörten nicht in die deutsche Volkskirche und auch der Rabbiner Paulus mit seiner »Sündenbock- und Minderwertigkeitstheologie« gehörten ausgemerzt. Vielmehr sollte die enge Verwandtschaft des »nordisch deutschen Geistes« mit dem »heldischen Jesusgeist« gezeigt werden.
Empörte Proteste folgten umgehend nicht nur aus den Reihen der Kirche, sondern auch aus der Glaubensbewegung DC.
Nach dem Verlust aller kirchlichen Ämter und seinem Austritt aus DC machte er als glühender Nationalsozialist Karriere: Er wurde Direktor am Elisabeth-Christinen-Lyceum in Niederschönhausen. Nach fünfjähriger Internierung in Landsberg und Buchenwald wurde er 1951 Studienrat in Konstanz und nach seinem Tod 1980 kirchlich bestattet.
Das Wort sie sollen lassen stahn
Pfarrer Martin Maresch Pfarrer Rudolf Jungklaus Superintendent Dr. Paul Fritsch Pfarrer Paul Sämisch Pfarrer Hermann Pankow
5. Dezember 1933
Öffentliche Versammlung »Das Wort sie sollen lassen stahn« im großen Saal des Konzerthauses Linder in der Breiten Straße. Die fünf Pankower Pfarrer laden zu einer Entgegnung auf Krauses Rede ein, in der jeder zu einem Thema einen Vortrag hält.
»Wir fünf Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Berlin-Pankow
erklären:Unsere evangelische Kirche gründet sich allein auf das Evangelium und hat keine andere Aufgabe, als die Verkündigung dieses Evangeliums. Weicht sie davon ab, so kann sie den ihr von Gott gewordenen Auftrag nie erfüllen, eine im wahren Sinne deutsche evangelische Volkskirche zu sein. Denn evangelische Kirche ist nur da, ›wo das Wort Gottes lauter und rein gelehrt wird!‹ Die Verkündigung dieses Wortes ist der besondere, ihr eigene und zugleich im besten Sinne vaterländische Dienst, den sie unserem deutschen Volke schuldig ist.«
Der Andrang zu dieser Veranstaltung war so groß, dass die Türen schon eine halbe Stunde vor Beginn geschlossen werden mussten. Die nachströmenden Besucherscharen wurden in die Kirche geleitet, und die fünf Pfarrer hielten ihre Vorträge nacheinander im Konzerthaus und in der Kirche.
Bekennende Kirche (BK) in Pankow
Das einmütige Auftreten der fünf Pankower Pfarrer hatte zur Folge, dass die DC, nach Rückzug Krauses und seiner Anhänger, stark an Einfluss verloren und sich, mit Gründung der BK im Mai 1934, eine aktive Bekennende Gemeinde entwickelte, zu der alle Pfarrer und circa 2000 Gemeindemitglieder gehörten.
Versuche der Kirchenbehörde, frei werdende Pfarrstellen in Pankow mit DC-Pfarrern zu besetzen, konnten abgewehrt werden.
Nach dem Tod von Pfarrer Sämisch im September 1934 wird mit Pfarrer Bluhm ein BK-Mitglied gewählt. Nach dem Tod von Pfarrer Maresch im April 1937 wird gleich zweimal die Einsetzung von DC-Pfarrern mit ungewöhnlichen Methoden verhindert:
- Verweigerung der Aufgabenzuteilung
- Beschwerde über fehlende katechetische Kompetenz
- stenografische Mitschrift der Vorstellungspredigt
- Protesteingaben von 70 Gemeindemitgliedern
März 1938
Verhaftung von Martin Niemöller, der zuvor mehrfach in Pankow gepredigt hat. Der GKR setzt sich für dessen Freilassung mit Eingaben an das Innenministerium, den Ministerpräsidenten Göring, den Oberkirchenrat und das Konsistorium ein. Ein von der BK-Leitung angeregter
»Bittgottesdienst für den Frieden«, dessen Durchführung in Dahlem zur kirchlichen Entlassung der BK-Leitungsmitglieder Müller, Albertz, Böhm und Forck führte, wurde in Pankow an allen drei Kirchenabgehalten. Von den 24 Mitgliedern im GKR gehörten 14 zur Bekennenden Kirche.
Fazit
Wie (fast) überall in Deutschland kam es auch in Pankow zur Machtübernahme der »Deutschen Christen« in den kirchlichen Gremien.
Anders als (fast) überall in Deutschland wehrten sich in Pankow Pfarrer und Teile der Gemeinde (»Bekennende Kirche«) gegen die Vereinnahmung der Kirche und die Verfälschung evangelischer Verkündigung durch den Nationalsozialismus
Wie (fast) überall in Deutschland wurden auch in Pankow Juden gedemütigt, entrechtet, deportiert, ermordet (selbst wenn sie Mitglieder der Kirchengemeinde waren).