Predigt · Quasimodogeniti · 24. April 2022 · Pastor Dr. Thies Gundlach
Predigttext Kolosser 2, 12 – 15
Gnade sei mit uns und Friede von Gott und unserem Herrn Jesus Christus. Amen
Liebe Gemeinde,
der Predigttext für diesen österlichen Sonntag „Quasimodogeniti“ steht im Kolosser-Brief im 2. Kapitel:
„Mit ihm seid ihr begraben worden in der Taufe; mit ihm seid ihr auch auferweckt durch den Glauben aus der Kraft Gottes, der ihn auferweckt hat von den Toten. Und Gott hat euch mit ihm lebendig gemacht, die ihr tot wart in den Sünden und in der Unbeschnittenheit eures Fleisches, und hat uns vergeben alle Sünden. Er hat den Schuldbrief getilgt, der mit seinen Forderungen gegen uns war, und hat ihn aufgehoben und an das Kreuz geheftet. Er hat die Mächte und Gewalten ihrer Macht entkleidet und sie öffentlich zur Schau gestellt und über sie triumphiert in Christus.“
Das ist zweifellos sehr verdichtete Theologie, die Versuchung war groß, ihm auszuweichen und einfach einen anderen Text zu nehmen; aber man soll sich ja von der Bibel nicht einschüchtern lassen, und also versuche ich es mit einem kleinen Umweg:
Ich habe in den Ferien über Ostern ein wunderbares Buch gelesen von einem Mann Namens Heino Falcke, der allerdings nichts mit dem berühmten Erfurter Theologen Falcke zu tun hat, sondern der Physiker, Mathematiker und Astronom ist und zu den Forschern gehört, denen das erste Photo eines „Schwarzes Loches“ gelungen ist. Die Sache mit den „Schwarzen Löchern im Universum und ihrem sog. „Ereignishorizont“ ist relativ kompliziert, weswegen das Buch von Heino Falcke auch zu jener Gattung von Büchern gehört, die ich sehr gerne lese, obwohl ich nur die Hälfte verstehe! Aber verstanden habe ich, dass auf dem Weg zu diesem sensationellen Photo ein fundamentaler Schritt nötig war. Man musste den Himmel und all seine Sterne nicht nur mit den Augen und also dem sichtbaren Licht betrachten, sondern man brauchte eine neue, andere Sicht auf das Universum, eine neue Art, es zu sehen. Die fand sich in der sog. Radiostrahlung, mit der man das Weltall noch einmal ganz neu sehen lernte. Konnte man auch mit dem allerbesten Teleskop nur die Sterne der Milchstraße sehen, also die Sterne unserer eigenen Galaxie, erschloß sich durch die Analyse der Radiostrahlung unendlich viel mehr Weltraum und man sah unzählige neue Galaxien und besondere Sterne usw. – eine faszinierende Entgrenzung unseres Bildes vom Weltall.
Liebe Gemeinde, ich muss jetzt aufpassen, dass ich Ihnen nicht vor lauter Begeisterung für dieses Buch eine Astronomie-Predigt halte. Denn es soll ja um das Theologische gehen an diesem Radiostrahlungsbeispiel: es entstand ein völlig neues Sehen, die bisher sichtbaren Sterne wurden erkannt als Teil eines unendlichen Universums, das plötzlich viel weiter, viel tiefer und auch viel älter wurde. Man sieht mehr als man dachte, die Welt erweitert sich um eine ganz neue Dimension. Und wir Menschen können unsere kleine Erde und unser ganzes Wissen um das Sonnensystem und seine Planeten völlig neu verstehen. Die eigene Welt wird neu, die Radiostrahlen machen uns neu sehend und alles was wir bisher erkannt haben, bleibt gültig, aber eingeordnet in einen anderen größeren Zusammenhang.
II.
So, liebe Gemeinde, habe ich mir diesen österlichen Aufbruch, besser diesen Durchbruch verstehbar zu machen gesucht: Wir bekommen mit unserer Teilnahme am Ostergeschehen gleichsam neue Augen geschenkt, in der alle bisher erkannten und erfassten Dinge in ein neues Licht geraten, neu erkannt, neu zugeordnet, neu verstanden werden. Es ist als würden wir „neu geboren“ werden, weil wir unsere Herzensaugen quasi noch einmal neu aufgeschlagen wurden in einer Welt, die natürlich nicht wirklich neu ist, sondern sich uns neu zeigt. Es ist als schlage der auferstandene Christus in jedem von uns noch einmal seine Augen auf und staunt für uns und mit uns und bei uns über die neu erkannte Welt.
Sie ahnen schon, liebe Gemeinde, dass damit im Grunde schon der Grundgedanke des Predigttextes angeklungen ist. Mit der Taufe werden wir hineingezogen in das Geschehen von Karfreitag bis Ostern, wir werden mit der Taufe gleichsam hineingenommen in diesen grausigen Weg Christi in den Tod, aber wir werden auch wieder am Ostermorgen herausgerissen aus dem Todesreich und können uns selbst und das Leben mit neuen Augen ansehen. Die Taufe reinigt uns – so die alte Auffassung – von dem, was uns blind macht, was unsere Augen verklebt, was unsere Herzen stumpf und unsere Seele taub macht. Und sie schenkt uns neues, weites, tiefes Sehen. Natürlich ist diese Deutung der Taufe früher in der alten Kirche bis hin zum Mittelalter ganz wörtlich genommen worden: die ersten Christen mussten ein sog. Katechumenat absolvieren, das sich über Jahre hinziehen konnte. Und sie sollten nicht nur Gott neu kennenlernen, sondern auch sich selbst korrigieren, der Sünde und dem verfehlten Leben abschwören, sie sollten enthaltsam sein und Gottes Wunder preisen, bis sie dann zum Osterfest getauft wurden – damals taufte man nur in der Osternacht.
Und es wurde damals ordentlich getauft: Die Menschen stiegen nackt in ein Tauchbecken und wurde dreimal ganz untergetaucht und wieder hochgezogen, dem Teufel mussten sie abschwören, sie erhielten aber nach dem dritten Taufgang ein weißes Kleid, das ihnen umgelegt wurde. Man versteht sofort, dass dies ein einschneidendes Erlebnis war, eine symbolische Reinigung des Inneren durch einen äußerlichen Akt, der für jeden Erwachsenen eine massive Entscheidung voraussetzte. Unsere Taufen, die wir heute an kleinen Kindern durchführen, hat noch manche Erinnerung an diesen Ursprung, aber ist natürlich in vielerlei Hinsicht viel harmloser und kinderfreundlicher geworden. Denn tatsächlich hat man das symbolische Taufen mit dem dreimaligen Wasser über die Fontanelle am Kopf des Kindes entwickelt, als man merkte, dass viel zu viele Kinder nach der Taufe starben, weil sie in eiskaltem Wasser untergetaucht wurden. Aber wie auch immer das Äußere gestalten wird: die Taufe, das „Mitbegraben werden mit Christus in den Tod und das auferweckt werden durch den Glauben aus der Kraft Gottes, der ihn auferweckt hat von den Toten“, wie es im Predigttext heißt, ist im Grunde eine Art individualisierter Nachvollzug des Weges von Karfreitag nach Ostern. Jeder Mensch soll diesen Weg selbst gehen dürfen und dadurch frei werden von all den Schleiern, die seine Augen blind machen, sodass sie Gott nicht sehen können und wollen.
III.
Soweit, so gut, hoffe ich, liebe Gemeinde, der Grundgedanke des Textes ist angedeutet und nun könnte man zweifach weitermachen: Die einen lassen sich jetzt vermutlich breit aus über das Sterben des alten, blinden Menschen, betone die Sünden, die Christus ertragen musste in seinem Leid und die er stellvertretend für uns am Kreuz ertragen hat. Oder wie es im Predigt-Text heißt: er hat den Schuldbrief, den Gott gegen jeden von uns in den Händen hält, auf sich genommen und mit hinaufgetragen ans Kreuz, sodass dieser mit seinem Tod sozusagen ungültig geworden. Und wir haben heute ja wirklich allen Grund, über diese sündige, schuldhafte Seite unseres Blindseins nachzudenken, wobei uns diese mehr als zufällige zeitliche Überschneidung hilft, dass wir unser Osterfest letztes Wochenende gefeiert haben, die orthodoxe Kirche aber ihr Osterfest an diesem Wochenende feiert. Wir schauen sozusagen von Ostern her auf eine völlig zerrissene Welt der orthodoxen Christen in Russland und der Ukraine, deren Ostersonntag sie offenbar nicht zu versöhnten Christen macht und friedensvolle Handlungen freilegt. Und dennoch glaube ich, dass auf beide Seiten der Front Menschen innigst beten für den Frieden, dass sie ihre Hoffnung auf Gott setzen, dass sie die Befreiung aus ihrer verzweifelten Lage erbitten, dass sie als verletzte, vertriebene, geschändete Menschen Trost finden bei dem Gott, der größer ist als alles Leid, alles Geschrei und allen Schmerz, den sie sich gegenseitig antun. Und ich kann nur sagen, dass ich vor und jenseits all der Fragen nach Boykott und Waffenlieferungen und was alles diskutiert wird in diesen Tagen, nicht vergessen möchte, dass unsere Gebete immer dem Jammer einzelner Menschen gelten, Menschen, die leiden und weinen müssen, die Vertrieben werden oder misshandelt, die verletzt werden oder sterben müssen. Und nur von diesem Gedanken aus muss jede/r von uns selbst beurteilen, ob er eher die Wehrhaftgkeit der Angegriffenen oder die wehrlose Leidensfähigkeit der Unterdrückten friedensnäher findet. Aber jeder von uns spürt, dass wir immer nur Zuschauer des Leidens sind, dass wir weder die Eltern einer vergewaltigten Tochter noch das Kind eines in Butscha getöteten Menschen sind und insofern irgendwie auch immer unzuständig sind. Weil wir als Christen in aller Regel nicht die besseren Kriegsstrategen sind, ist es unsere Aufgabe, für die Menschen zu beten, an die einzelnen Schicksale zu erinnern und der orthodoxen Christen ein Ostern zu wünschen, das dennoch Friede und Freiheit in sich trägt.
IV.
Wir hätten also alle Gründe, über den Schuldbrief zu reden, den wir – jeder einzelnen von uns, aber auch wir alle zusammen – Christus gleichsam mitgegeben haben, um ihn hinauftragen zu lassen ans Kreuz. Und ich vermute, dass wir alle diesem Christus einen relativ langen Schuldbrief mitgeben. Aber wir sind eben schon unterwegs in der wunderbaren Osterzeit, wir sind schon angekommen in dem „wie neu geboren sein“. Unsre Augen sind frei, die Blindheit ist geheilt, wir können gleichsam mit den Radiostrahlen des österlichen Lebens auf unsere Welt schauen. Wie können diese wunderbaren Osterliedern singen, wir können dem Frühling begrüßen und dankbar das Leben feiern.
Und natürlich sind wir in dieser österlichen Stimmung auch motiviert, unserem Nächsten zu helfen und ihm beizustehen, wenn er bedrängt wird. Denn die Leidensbereitschaft im Falle von Unrecht ist ja immer nur eine, die sich auf mich selbst bezieht, ich darf dem Nächsten kein Leiden zumuten, sondern muss und soll ihm beistehen, dass Leid zu begrenzen. Und wir helfen ja auch, es sind unerhörte Hilfsanstrengungen für alle die Geflüchteten aus der Ukraine, es ist eindrücklich. Und als Vorsitzender des Seenotrettungsvereins „United 4 Rescue“ sage ich bei aller Anerkennung dieser Hilfe auch, es wäre schön, wenn auch die Menschen, die übers Mittelmeer fliegen müssen, ähnlich freundliche Aufnahme fänden wie die Ukrainer. Denn es gibt für uns Christen nicht Menschen erster und zweiter Klasse und Krieg als Fluchtursache, den gibt es leider in sehr vielen Ländern.
Aber ich will diese Ostertage nicht beschweren mit ethischen Herausforderungen, sondern zuletzt den harten Kern dessen nennen, was wir durch Ostern neu sehen lernen: es ist Gott selbst, den wir neu sehen! Wir werden mit unseren gleichsam neugeborenen Augen „Gottesseher“ in einer Welt, die Gott weder braucht noch weithin kennt. Manchmal habe ich den Eindruck, dass wir dieses österliche Grundgeschenk vor lauter ethisch-moralischen Diskussionen aus den Augen verlieren: zuerst sind wir Christen Freund*innen Gottes, wir dürfen und können Gott sehen und von ihm singen und sagen, wir sind gleichsam seine Bodenstation, die ihn lieben und fürchten, wie Martin Luther sagt, was doch meint: ihn anrufen, ihn lobsingen, ihn in unser Leben hereinrufen, ihm Platz geben in unserer Seele, ihn mitreden lassen in allem, was wir tun und denken. Doch das tiefste Geheimnis des Osterfestes ist, dass Gott selbst es ist, der Ostern neu wird. Er definiert sich gleichsam ganz neu mit dem Weg Jesu Christi, er legt sich selbst neu aus mit dem Weg ans Kreuz und kann so auch uns „quasi neu gebären“ mit Augen des Herzens, die uns Licht sehen lassen auch im finstersten Dunkel. Ostern macht Gott und den Menschen neu, Gott sei Dank und Amen!