Predigt · Septuagesimae · 13. Februar 2022 · Pfarrerin i.R. Ruth Misselwitz
Jeremia 9 , 9 ,22 – 23
Liebe Schwestern und Brüder,
das Zentrum der christlichen Festtage im Kirchenjahr ist das
Osterfest.
Auf dieses Fest hin und nach diesem Fest weiter wird der Großteil
der Sonntage gezählt und inhaltlich bestimmt.
So auch der heutige Sonntag, der „Septuagesimae“ heißt.
Das kommt aus dem Lateinischen und heißt: 70.
Von heute an dauert es noch 70 Tage bis zum Sonntag
Ouasimodogeniti, dem 1. Sonntag nach Ostern,
also dem Ende der Osterwoche.
Die Passionszeit sieben Wochen vor Ostern ist uns wahrscheinlich
noch hinreichend bekannt.
Sie beginnt mit dem Aschermittwoch, an dem das lose Treiben vorbei
ist und nun die Fastenzeit beginnt, in der man sich auf das
Ostergeschehen vorbereitet.
Dass es aber eine Vorfastenheit gibt, ist kaum bekannt.
Die Zeit vom heutigen Sonntag „Septuagesimae“ bis zum
Aschermittwoch wird im Kirchenjahr als die Vorfastenzeit
bezeichnet.
Vermutlich unter dem Einfluss ostkirchlicher Praxis wurde seit dem 6. Jahrhundert in Rom der vorösterlichen Fastenzeit eine Vorfastenzeit vorangestellt, die mit dem Sonntag Septuagesimae
begann.
Die Zahl 70 hat in der Bibel eine besondere Bedeutung.
Sie wird als die „Zahl der Vollständigkeit in der Gnade und im
Gericht“ bezeichnet.
Die katholische Kirche hat seit dem 2. Vatikanischen Konzil die
Vorfastenzeit abgeschafft.
Wir in der evangelischen Kirche feiern diese Sonntage noch und
verzichten schon jetzt auf das Halleluja und das Gloria.
Die liturgische Farbe allerdings ist noch nicht violett sondern immer
noch grün.
Inhaltlich gibt der Wochenspruch das Thema an, den wir eingangs
gehört haben:
Wir vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf die
Barmherzigkeit Gottes.
Der Predigttext für den heutigen Sonntag kommt aus dem Buch des
Propheten Jeremia, aus dem 9. Kapitel:
„So spricht der Herr: Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit,
ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke,
ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums.
Sondern wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, dass er klug
sei und mich kenne, dass ich der Herr bin, der Barmherzigkeit, Recht
und Gerechtgkeit übt auf Erden; denn solches gefällt mir, spricht der
Herr.“ Jer. 9,22,23
Liebe Schwestern und Brüder,
das sind die Worte des Propheten Jeremia.
Dieser Prophet gehört zu den bekanntesten und eindrücklichsten
Gottesmännern, die wir aus der Bibel kennen.
Er stammt aus einem Priestergeschlecht und wurde schon in jungen
Jahren von Gott auserwählt und zum Propheten berufen.
Das hat ihm ein schweres, ein hartes Schicksal beschert.
So wie den wahren Propheten das Schicksal ihres Volkes am Herzem
liegt,
so ringt Jeremia mit den Königen Israels vor der großen Katastrophe,
die 586 v.Chr. über das Land hereinbricht,
als die Babylonier Jerusalem mit samt dem Tempel in Schutt und Asche legen.
Jeremia sieht die Katastrophe voraus und tut alles, um sein Volk
davor zu bewahren.
Das kleine Israel wird von allen Seiten bedrängt.
Der nördliche Teil ist schon vor etlichen Jahren von den Assyrern
annektiert worden,
nun stehen die Babylonier mit einem gewaltigen Heer vor den
Grenzen Israels und drohen einzumarschieren.
Die Könige Israels verbünden sich mit den Ägyptern und glauben so,
stark genug zu sein, um gegen das babylonische Heer ihr Land
verteidigen zu können.
Israel steht zwischen den beiden feindlichen Großmächten
und wird benutzt als Spielball im Kräftemessen.
Doch die politisch Verantwortlichen in Jerusalem gebärden sich,
in völliger Überschätzung ihrer vermeintlichen Klugheit, Kraft und
militärischer Stärke,
wie aufgeblasene Hähne – und laufen in das offene Messer.
Und Jeremia sieht mit Entsetzten, was da passiert.
Dem König Zedekia von Juda ruft er verweifelt zu:
„Beugt euren Nacken unter das Joch des Königs von Babel und seid
ihm und seinem Volk untertan, so sollt ihr am Leben bleiben. Warum
wollt ihr sterben….?“ Jer. 27,12f
Eine Kapitulation ist allemal besser als ein zerstörtes Land und
Tausende von Toten.
Jeremia ist sich nicht zu schade, als Feigling zu gelten,
um Leben zu retten.
Er ruft, er warnt, er schreit, er weint, er macht sich zum Gespött
seiner Landsleute, wird mundtot gemacht, ins Gefängnis geworfen
und sogar gefoltert,
denn die Herrschenden wollen keine Zweifel,
sondern nur Zustimmung zu ihren irrwitzigen Plänen hören.
Jeremia hält den Reichen und Starken, den politisch Verantwortlichen
im Tempel und auf dem Thron den Spiegel vor das Gesicht.
Er stellt sich in den Tempel von Jerusalem und ruft den
Versammelten zu:
„So spricht der Herr Zebaoth, der Gott Israels: Bessert euer Leben
und euer Tun, so will ich euch wohnen lassen an diesem Ort.
Verlasst euch nicht auf Lügenworte, wenn sie sagen: Hier ist des
Herrn Tempel, hier ist des Herrn Tempel, hier ist des Herrn Tempel!
Sondern bessert euer Leben und euer Tun, dass ihr recht handelt
einer gegen den anderen
und gegen Fremdlinge, Waisen und Witwen keine Gewalt übt
und nicht unschuldiges Blut vergießt und nicht anderen Göttern
nachlauft zu eurem eigenen Schaden,
so will ich euch immer und ewiglich wohnen lassen an diesem Ort,
in dem Lande, das ich euren Vätern gegeben habe.“ Jer. 7,3-7
Der Gottesmann hält der militärischen Kraft und Stärke eine andere
Stärke gegenüber – die Stärke des Rechts und der Gerechtigkeit.
Und er lässt keinen Zweifel darüber, dass er der Kraft der
Gerechtigkeit weit mehr zutraut als der Kraft der Waffen.
denn er weiß, dass kein anderer als Gott selbst auf der Seite des
Rechts und der Gerechtgkeit steht.
Am Ende also wird nicht der Stärkere siegen, sondern der Gerechte?
Liebe Schwestern und Brüder,
wir wissen, wie das ganze ausgegangen ist,
die Könige und Generäle haben nicht auf Jeremia gehört,
sie rüsteten weiter auf, beugten das Recht,
wähnten sich im Besitz aller moralischen und freiheitlichen Werte
und Gott auf ihrer Seite – und sind jämmerlich untergegangen.
Jeremia musste mit ansehen, wie alle seine schrecklichen
Prophezeiungen eintrafen.
Er wurde gefangen genommen und wahrscheinlich nach Ägypten
verschleppt, wo sein Weg im Dunkeln endet.
600 Jahre später wandert wieder ein Prophet durch Israel,
erinnert an die Worte der Gottesmänner und -frauen seines Volkes,
warnt vor der großen Katastrophe,
ruft zur Umkehr und zur Einkehr,
spricht die Barmherzigen, die Friedensstifter, die Gewaltlosen und
die Leidtragenden selig,
vertraut auf die Kraft der Schwachen und auf das Friedensreich
Gottes,
Auch er wird gefoltert und umgebracht.
Wenige Jahre später wird ein zweites mal Jerusalem und der Tempel
zerstört,
diesmal von den Römern.
Doch es geschieht etwas ganz unglaubliches –
er ist wieder lebendig,
seine Nähe ist spürbar, seine Worte hörbar,
seine Menschenliebe ungebrochen.
Der Gerechte ist stärker als alle militärische Macht!
Liebe Schwestern und Brüder,
auch heute stehen wir wieder vor einer möglichen Katastrophe.
Der Konflikt um die Ukraine erinnert mich stark an die Ereignisse
damals in Israel.
Auch hier steht wieder ein kleines Volk zwischen den
Machtinteressen zweier Großmächte.
Ein Krieg würde nicht nur die Ukraine in den Abgrund reissen,
ein Flächenbrand würde ganz Europa ergreifen.
Und ich schaue mich um und suche nach solchen Propheten und
Mahnern, wie es dereinst Jeremia war,
aber ich sehe und höre sie nicht.
Stattdessen wird das Kriegsgeschrei immer lauter und gefährlicher.
Möge Gott sich unser erbarmen und Menschen berufen,
die zur Umkehr rufen,
die sich Gehör verschaffen
und dem Recht und der Gerechtigkeit Gottes mehr zutrauen als aller
militärischen Stärke.
„Quasimodogeniti“ – 70 Tage vor Ostern,
liebe Schwestern und Brüder,
auch wenn nun die Vorfastenzeit beginnt und wir durch eine lange
dunkle Passionszeit wandern müssen,
schauen wir doch unbeirrt auf das Ziel –
der Tod kann das Wort Gottes an uns Menschen nicht auslöschen,
es wird weitergetragen durch die Generationen,
durch unsere Münder und unsere Hände.
Hoffnung schöpfen wir aus den Worten unserer Mütter und Väter:
„Wir liegen vor dir mit unserem Gebet und vertrauen nicht auf unsere
Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit.“
Amen.