Predigt · Heiligabend · Pfarrer i.R. Werner Krätschell
Der biblische Predigttext für diesen Heiligen Abend steht im Alten Testament, beim Propheten Micha, in dieser wunderbaren, weit gespannten Sprache:
Und du Bethlehem, du Bethlehem-Efrata, die du klein bist, die du klein bist unter Tausenden in Juda, aus dir, ja, aus dir soll mir kommen, der in Israel Herr sei, dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist.
Liebe Gemeinde, Bethlehem, der du klein bist! Dieses kostbare Wort „klein“ enthält im Kern die ganze Weihnachtsgeschichte. Nicht nur, weil da ein kleines Kind im Stall von Bethlehem geboren wurde, das später „Retter der Welt“ genannt werden wird. Nein, weil bei Gott alles Große, auch das Größte, ganz klein beginnt. Darum beginnt das wirklich Große auch in dir, wenn du, wie Jesus einmal gesagt hat, wie ein Kind wirst. Wörtlich: Wer sich zu den Geringen zählt, wie das Kind hier, sagt Jesus, der ist der Größte im Himmelreich. Darum werde auch du in deinem Innersten wieder zu einem Kind. Vergiss für eine kurze Zeit, was in deinem Leben vielleicht an Größe, an Bedeutung, an Vorzeigbarem vorhanden ist. Lass los und entdecke, dass es gerade im Unsichtbaren, im Geringen, im Wenigen gut Sein ist und dass Gott dieses Sein von dir mehr beachtet und schätzt als das andere. Und mit dieser bescheidenen Haltung, mit dieser Gott zugewandten Bewegung in dir, eröffnest du auch die große Chance, Gott und seiner Wirklichkeit zu begegnen.
Aber nun erst noch einmal die Mitte der ganzen Weihnachtsgeschichte. In diesem Jesus-Kind kommt Gott, völlig unbegreiflich, sozusagen „ganz klein“ in diese Welt. Das bedeutet, dass wir zu Weihnachten unsere Blickrichtung ändern, unsere Blickgewohnheit aufgeben müssen. Du schaust zu Gott nicht mehr mit dem Blick nach oben, zum „himmlischen“ Vater, sondern: senke, senke, senke den Blick nach unten, bis du die unendliche Liebe Gottes zu uns Menschen und bis du die unendliche Liebe Gottes auch zu dir, ja, zu dir erkennst. Und es gibt wirklich keine andere Erklärung für diesen Gott „da unten“, in der Krippe, als dass Gott diese Bewegung zu uns hin aus lauter Liebe vollzogen hat. In unserem prophetischen Text heißt es sogar, dass diese Bewegung der Liebe Gottes zu uns schon in Gott bestanden hat, als es noch keine Menschen, als es noch keine Schöpfung gab, wörtlich: von Anfang und von Ewigkeit her.
Damit hängt ganz eng zusammen die andere Botschaft, die vom Kind in der Krippe ausgeht. Und diese Botschaft hat etwas Revolutionäres in sich. Wenn Gott nämlich in diesem Kind in unsere Welt kommt, so wird er, der Große und Allmächtige, verwundbar, verletzlich. Und wenn Gott sich verletzlich macht, so besteht das Revolutionäre auch wieder darin, dass er nicht als unerreichbare Majestät über allem schweben und angebetet werden will, sondern dass er sich in unsere menschliche Seinsweise begibt, die so verletzlich ist, wie wir es gerade mit der Pandemie als weltweites Phänomen erleben. Um diese, unsere eigene Verletzlichkeit geht es auch heute an diesem Heiligen Abend. Wenn Gott nämlich seine majestätischen, allmächtigen Qualitäten aufgibt, könnten wir da nicht in unserem Inneren eine ähnliche Bewegung zulassen? Das heißt, langsam das loszulassen, was uns scheinbar groß und wichtig und so erscheinen lässt, als wären wir nicht verletzbar. Ach ja, dann stünden wir nämlich alle an der Krippe des Kindes zusammen als gemeinsam und gleichermaßen Verletzte, und zwar alle, wirklich alle, ob kirchlich, ob nur ein wenig kirchlich oder ob gar nicht kirchlich. Wir wären alle einfach nur, wie Gott auch, verletzbare Menschen.
Wenn wir das uns eingestehen – also wir uns selbst gegenüber und wir auch allen anderen gegenüber eingestehen, so könnten wir ganz neu, ganz verändert, ganz weihnachtlich miteinander umgehen – wir in unseren Familien, wir in unseren nachbarschaftlichen, wir sogar in unseren beruflichen Beziehungen.
Gott hat dieses Kleinsein, diese Verletzlichkeit, wie wir gehört haben, aus lauter Liebe geschehen lassen. Wir wissen auch, dass er wegen dieser Liebe später sogar durch die Kreuzigung den Tod in Kauf nimmt, die extremste Form der Verletzlichkeit. Aber wir wissen als Glaubende auch, dass diese göttliche Liebe viel stärker ist als der Tod. Diesem Liebestod Gottes folgt neues, befreites, erlöstes Leben.
Darum ist diese Liebe Gottes auch die große, beinahe die einzige Hoffnung für die gerade so vielfach gefährdete Menschheit. Darum ist diese göttliche Liebe die große und beinahe auch die letzte Hoffnung für unsere so verletzliche Erdkugel, wie sie ja schon oft von den Astronauten aus ihrem fernen Blickwinkel als so verletzlich beschrieben wurde. Und zuletzt: Darum ist diese Liebe Gottes auch die große Hoffnung für mich und mein Leben, und, wenn es sein muss, auch für mich und mein Sterben. Amen.
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