Predigt · Karfreitag · 6. April 2012 · Pfarrerin Renate Kersten
Liebe Gemeinde,
was ist Wahrheit? Schon, wie etwas tatsächlich geschehen ist, ist
gar nicht einfach herauszufinden, Am besten lässt man es sich von
zwei oder drei Menschen erzählen, um sich ein Bild zu machen.
Doch auch, wenn klar ist, was geschehen ist, beschleicht mich
manchmal das Gefühl: Das kann doch alles nicht wahr sein. Oder:
Das stimmt doch alles nicht. Da ist doch noch etwas anderes
dahinter. Und das, dieses andere, das ist es eigentlich. Manchmal
fühle ich mich dann wie ein kleiner Detektiv. „Dahinter“ vermute ich,
zugegeben, eher Schlechtes als Positives. Nur selten ist es anders.
Merkwürdigerweise – wenn es um das Sterben geht, da kann es
geschehen, dass es anders ist. Ich erlebe dann, dass äußerlich
vieles unschön, vielleicht sogar schrecklich aussieht – und spüre
doch: Das ist aber nicht die Wahrheit. In Wahrheit geschieht hier
gerade etwas Wichtiges und Einmaliges. Es mag mir weh tun, das
mitzuerleben – und doch fühlt es sich richtig an. Eine andere
Wirklichkeit wird spürbar. Sie ist über uns, neben uns, um uns und
in uns. Sie ist gar nicht weit weg – im Gegenteil. Der Kirchenvater
Augustinus hat gesagt: die Gotteswirklichkeit ist mir näher als ich
mir selber bin. Sie ist der Kern.
Jesus steht radikal für diese Wahrheit. In seiner
Gerichtsverhandlung steht er ausschließlich für diese Wahrheit. Es
ist, als ob ihn alles andere nur am Rande interessiere. Der Richter
wirkt nervös, der Angeklagte souverän. Ganz eins mit der Wahrheit
der Gotteswelt. Dort, im Himmel, der uns umgibt, geschieht das
Eigentliche. Aus dem Himmel, der ganz nah ist, kommt alles, was
retten kann. Das Sichtbare ist nur ein Spiegel des Unsichtbaren,
eine Konsequenz dessen, was unsichtbar geschieht.
Wenn Ihnen das zu abgehoben erscheint, setzen Sie ihren inneren
Detektiv darauf an und lassen sie ihn die Gegenwart beobachten.
Was bewegt uns Manschen? Was führt zu Gewalt oder
Waffenstillstand, was führt zu Hunger, was zu Wohlstand? Die
großen Kräfte sind alle unsichtbar. Sie stehen hinter dem, was
sichtbar wird. Liebe. Hass. Treue. Verrat. Großzügigkeit. Geiz.
Hingabe. Neid. Angst. Hoffnung. Begeisterung. Resignation. Gier.
Schuld. Versöhnung. So heißen starke Kräfte, uns Menschen
bewegen. Und während wir uns schnell einigen können, wie es
eigentlich unter uns sein sollte (friedlich, gerecht und freundlich zum
Beispiel), so wird es schnell unendlich kompliziert, wenn es darum
geht, das zu erreichen. Eine einfache Friedenslösung für Syrien.
Oder gerechte Bildungschancen für jedes Kind in unserem Land.
Wir verstricken uns in Gedanken wie „Mobilität ja, Fluglärm und
hohe Spritpreise nein“. Sobald es konkret wird, kommen wir an
Punkte, an denen die Frage „Was ist Wahrheit?“ alles andere als
rhetorisch ist.
Was entspricht der Wirklichkeit Gottes? Wie kann Gott unter uns
wahr werden? Wie können wir mit unserer Vergangenheit, trotz
unserer Vergangenheit Zukunft gewinnen? Für uns selbst – und für
alle, die noch geboren werden? Wie kann es gerecht zugehen? Wie
kann Frieden werden? Die Gotteswelt birgt Antworten auf diese Fragen, dort ist es gerecht, dort ist Güte stark, dort ist Frieden.
Diese Welt spiegelt sich unter uns, manchmal nur schwach, als
Ahnung und Sehnsucht – auch als Vision, die uns nicht loslässt. Der
Gegenpol ist die Sünde, die uns ebenso wenig loslässt. Die
Resignation, dass Engagement doch nichts nützt, die Eitelkeit, die
so vieles zerstört, die Gier und dahinter die Angst um das eigene
Leben.
Jemand muss vermitteln zwischen der Himmelswelt Gottes und
uns. Ein Unterhändler, ein Schlichter, der in beiden Welten zu
Hause ist. In alten Zeitentaten das die Priester, und schon im Alten
Testament ist heftig umstritten, ob das Darbringen von Opfern
funktioniert, ob es unsere Welt und die Gotteswelt zusammenbringt,
versöhnt. Unser Mittler ist Jesus Christus. Wir glauben, dass er sich
in einer Weise für die Wahrheit verbürgt hat, ja, selbst die Wahrheit
ist, so dass wir in der Gottesnähe und Gotteswirklichkeit leben
können.
Im Gegensatz zu einer naiven Religiosität, die Gottes Wahrheit
hinter wirtschaftlichen und militärischen Erfolgen vermutet, war es
gerade das Sterben und Auferstehen Jesu, der Weg durch den Tod,
und nicht am Tod vorbei, in dem die Gotteswelt spürbar wurde –
und wird. Bis heute versuchen wir, das zu erfassen, buchstabieren
es nach, lassen es in uns klingen. Der Autor des Hebräerbriefes
ging dieser Wahrheit in den alten Bildern des Tempelkultes nach:
8, 1f „Das ist nun die Hauptsache bei dem, wovon wir reden: Wir
haben einen solchen Hohenpriester, der da sitzt zur Rechten des
Thrones der Majestät im Himmel und ist ein Diener am Heiligtum
und an der wahren Stiftshütte, die Gott aufgerichtet hat und nicht
ein Mensch.
9, 15 Er ist der Mittler des neuen Bundes, damit durch seinen Tod,
der geschehen ist zur Erlösung von den Übertretungen unter dem
ersten Bund, die Berufenen das verheißene ewige Erbe empfangen.
24 Denn Christus ist nicht eingegangen in das Heiligtum, das mit
Händen gemacht und nur ein Abbild des wahren Heiligtums ist,
sondern in den Himmel selbst, um jetzt für uns vor dem Angesicht
Gottes zu erscheinen; auch nicht, um sich oftmals zu opfern, wie
der Hohepriester alle Jahre mit fremdem Blut in das Heiligtum geht;
sonst hätte er oft leiden müssen vom Anfang der Welt an. Nun aber,
am Ende der Welt, ist er ein für alle Mal erschienen, durch sein
eigenes Opfer die Sünde aufzuheben.
Und wie den Menschen bestimmt ist, einmal zu sterben, danach
aber das Gericht:
so ist auch Christus einmal geopfert worden, die Sünden vieler
wegzunehmen; zum zweiten Mal wird er nicht der Sünde wegen
erscheinen, sondern denen, die auf ihn warten, zum Heil.“
Im Himmel, in der ungebrochenen Gotteswirklichkeit – da hat Jesus
Christus das tatsächliche Opfer gebracht. Der Hebräerbrief denkt es
in Bildern des Opferkultes – immer, um zu sagen, dass hier etwas
anderes und weiter Gehendes geschehen ist. Denn Menschen
durften ja nicht geopfert werden. Das ganze Geschehen im Himmel
bleibt für uns geheimnisvoll. Jesus starb und brachte sein „Es ist
vollbracht“ in den Himmel mit. An anderer Stelle ist von Fürbitte im Himmel die Rede. Fest steht: Er ist seinen Weg tatsächlich zu Ende
gegangen. Er starb als der unbestechliche Zeuge der Wahrheit,
dass Gott diese Welt lieb hat, dass er uns Menschen lieb hat und
Schuld nicht rächen will.
Wenn der Hebräerbrief einen Tempel im Himmel imaginiert, einen
Ort in der eigentlichen Gotteswirklichkeit, an den Jesus zurückkehrt,
nachdem er sich ganz gegeben hat – und einen Ort, an dem Gott
und Menschen tatsächlich versöhnt werden, dann heißt das auch:
Diese Gotteswelt war vorher nicht heil. Sie wird berührt von Hass
und Neid und Gier und Verzweifelung, von Schuld und Sünde. Wir
würden heute weniger pathetisch sagen: Was hier unten passiert,
das macht etwas mit Gott. Und so ist der Himmel, ist die
ungebrochene Gotteswirklichkeit nicht nur die Welt, in der das Lob
Gottes wunderbar erklingt. Selbst dort, in der unsichtbaren Welt,
musste der Riss geheilt werden.
Gott selbst wurde Mensch und wich der Sünde, die ihn als Oper
traf, nicht aus. Der Himmel wurde heil, die Sünde kann ihn nicht
mehr treffen. Der Tod wurde durch das Sterben Jesu entmachtet.
Damit sind die Dinge grundlegend klar gestellt. Die Sünde als Macht
ist hohl, ist nicht mehr echt. In diesem Punkt waren die
frühchristlichen Autoren zuversichtlicher als ich es oft bin, ja,
geradezu enthusiastisch. Aber ich will mit ihnen daran festhalten:
Verzweifelung, Resignation, Gier und Angst sind gebrochen. Ja –
sie sind da. Aber schon indem wir sie in Frage stellen leuchten
dahinter andere Möglichkeiten auf. Die Wahrheit gewinnt Raum,
zuerst in unseren Herzen.
Dafür ist Jesus Christus gestorben, ist durch den Tod gegangen.
Gott hat sich in ihm der Welt so gegeben. Schon der Hebräerbrief
hält fest: Ein für alle mal. Das ist einzigartig, und es begründet kein
„Prinzip Opfer“. Freilich: Sein Tod führt uns auch nicht am Tod
vorbei in die himmlische Welt.
Doch die Heilung der himmlischen Welt, die große Umkehr Gottes
selbst zu seiner ursprünglichen Liebe zu den Menschen, die
Vergebung und Versöhnung – das ist vollbracht. Denn der geheilte
Himmel ist da, um uns, in uns – und wartet auf uns als unsere letzte
Zukunft. Die Sünde kann keine Besitzansprüche mehr anmelden.
Wir gehören zu Gott, wir gehören Gott, in alle Ewigkeit. Mit dieser
Wahrheit können wir frei leben und, wenn es auf uns zukommt,
zuversichtlich sterben. Amen.