Predigt · 10. Sonntag nach Trinitatis · 4. August 2013 · Pfarrer i.R. Lorenz Wilkens
Israel-Sonntag
Liebe Gemeinde,
wir begehen den 10. Sonntag nach dem Fest der Trinität; er
wird nach kirchlichem Herkommen als „Israel-Sonntag“ gefeiert.
Dabei soll über die Schicksale des jüdischen Volkes und das
Verhältnis der Christenheit zu ihm nachgedacht werden. Das
erste, was uns dazu in den Sinn kommt, ist unweigerlich die
Tradition der kirchlichen Feindseligkeit gegenüber den Juden,
der Antijudaismus, darnach, ihm geschichtlich folgend, der
Wahn, die Semiten seien eine minderwertige Rasse, und
besonders die Juden unter ihnen verdienten Verachtung und
Verfolgung. Dieser Wahn, der Antisemitismus, war es, der den
NS zu dem Vorhaben der Vernichtung der Juden Europas
bestimmte. Als die Alliierten ihm in den Arm fielen und seinem
bösen Regime ein Ende machten, hatte er sein Vorhaben großen
Teils in die Tat umgesetzt. Diese Erinnerung führt uns zu dem
Dilemma des Israel-Sonntags: Wir müssen über sie reden, und
wir können es nicht. Wir m ü s s e n es, um verhindern zu
helfen, daß Ähnliches erneut geschieht. Wir k ö n n e n es
n i c h t : Zum Reden gehört der Impuls zu verstehen, und
dazu gehört Sympathie. Doch diesen Untaten gegenüber verbietet
sich jegliche Sympathie. Wir können sie nicht verstehen; wir
dürfen es nicht einmal wollen. Die Erinnerung an sie ruft in
uns den Hang hervor, im Schrecken zu erstarren – die Neigung,
durch Eintreten in den Zustand äußerster Betroffenheit dem
Zwang zur Reaktion, zur Antwort zu entgehen. Es mag auch im
Gedenken daran geschehen sein, daß Helmut Gollwitzer in seiner
Predigt am Bußtag 1938 – nach der sog. Reichskristallnacht –
erklärte: „… Es wäre vielleicht das Richtigste, wir würden
nicht singen, nicht beten, nicht reden, nur uns
s c h w e i g e n d darauf vorbereiten, daß wir dann, wenn
die Strafen Gottes offenbar und sichtbar werden, nicht
schreiend und hadernd herumlaufen: Wie kann Gott so etwas
zulassen?“
Und doch: Wir müssen darauf sinnen, wie wir aus dem Dilemma,
reden zu müssen und es nicht zu können, hinausfinden. Wie kann
der Bann sich lösen? Versuchen wir, uns noch einmal in den
Zustand äußerster Betroffenheit zu versetzen, den wir nur mit
Schreckensstarre meinten überstehen zu können. Dabei kann uns
aufgehen, daß es sich nicht nur um p a s s i v e
Betroffenheit handelte. Der Schrecken erschien eben darum so
übermächtig, er kam den Christen darum so unentrinnbar nahe,
weil er klar machte, daß die Untaten, die ihn hervorriefen,
mit einem Motiv verwandt waren, das sie selbst in ihrer Seele
trugen. Der Zentrum des Schreckens lag in der Empfindung, daß
sie sich selbst in der Untat wiedererkennen mußten. Dies Motiv war die Jahrhunderte lang überlieferte Feindseligkeit den
Juden gegenüber. Damit diese Einsicht verständlich wird, muß
man die zentrale Vorstellung nennen, in die die Feindseligkeit
sich faßte und die sie evozierte: Die Juden seien eigentlich
keine Menschen. Sie seien wie Larven, oder Puppen, sie
täuschten nur vor, Menschen zu sein. Denn sie seien seelenlos,
und hätten kein Herz. Zwischen ihnen und uns könne es zu
eigentlicher Sympathie, Empathie nicht kommen. Denn wo bei uns
anderen das Mitgefühl, sei bei ihnen immer nur das eigene
Interesse, unablenkbar zielgerichtet, Gier nach Gewinn und
Sicherung. Und nun der Anteil der kirchlichen Lehre an dieser
Vorstellung, diesem Zwangsgedanken: Sie seien keine Menschen,
denn sie erkennten die Menschwerdung Gottes in Christus nicht
an. Das älteste Stereotyp des kirchlichen Antijudaismus findet
sich im 1. Brief des Paulus an die Thessalonicher: Die „Juden“
… „haben den Herrn getötet und ihre eigenen Propheten und
haben uns verfolgt und gefallen Gott nicht und sind allen
Menschen zuwider.“ (1. Thess 2, 15) Sie haben demnach selbst
dem die Sympathie verweigert, in dem Gott als Mensch
erschienen war. Das war und ist nur möglich, weil sie zu
überhaupt keiner Sympathie fähig sind. Darum haben sie im
strengen Sinne kein Recht, dem genus humanum, der menschlichen
Gattung zugerechnet zu werden.
Liebe Gemeinde, von hier zurück zu der äußersten
Betroffenheit, die die vom NS an den Juden begangenen
Verbrechen hervorriefen: Wir können jetzt erkennen, daß in der
Betroffenheit auch die Möglichkeit einer Schuldeinsicht und
mithin der Impuls zur Umkehr enthalten war. „Wenn du anderen
Menschen und gar einem ganzen Volk die Fähigkeit zur Sympathie
absprichst, so beginnst du dadurch, deine eigene Sympathie zu
zerstören. Du richtest dich auf den Zwang ein, daß immer dann,
wenn sich in dir ein Impuls der Sympathie regt, das Bild des
Feindes sich einstellt: ‚Hüte dich, es ist ein Jude, einer von
jenen, gegenüber denen eine Gegenseitigkeit der Empfindung
nicht möglich ist.’ Das Feindbild lähmt und erstickt in dir
die Sympathie, deren Möglichkeit doch zu deiner Natur gehört.
Je mehr du dem Feindbild gehorchst und erliegst, um so mehr
entfremdest du dich mithin von deiner eigenen Natur – von dem
Gott, der dich geschaffen hat. Wenn ein Mensch geschmäht,
geschlagen und mit Füßen getreten wird, so macht deine Natur
die Pflicht geltend, ihm zu Hilfe zu kommen. Wenn das
Abstandnehmen von dieser Pflicht in dir zur Haltung wird,
entsteht in dir dasselbe, was du dem Feind vorwirfst: In dir
erstirbt die Fähigkeit der Sympathie.“
Die in der äußersten Betroffenheit enthaltene Möglichkeit der
Schuldeinsicht ist nichts anderes als die Wiederkehr der
kreatürlichen Sympathie. Eben sie meinte Gollwitzer, als er in
der erwähnten Bußtagspredigt fortfuhr: „Was sollen wir tun?
Tue deinen Mund auf für die Stummen, und für die Sache aller!
Gott will Taten sehen, gute Werke gerade von denen, die mit Christi Hilfe entronnen sind.“ Der Empfindung, vom äußersten
Schrecken zur Sprachlosigkeit verurteilt worden zu sein, folgt
die Möglichkeit neuer Sprache: Fürsprache. „Tu den Mund auf
für die Stummen!“ Sie wurde erschreckend wenig ergriffen. Ich
glaube, man hinderte sich meistens dadurch an ihrer
Verwirklichung, daß man sich der Suggestion des Banns, der
Schreckensstarre überließ und es, man wußte selbst nicht wie,
vermochte, von ihr zur Tagesordnung überzugehen. Darin lag
S e l b s t – Verrat: das geradezu routinemäßige Absehen von
der Wiederkehr der Sympathie, das von der Empfindung, wie eng
der Spielraum der Existenz überhaupt geworden war, begleitet
und gefördert wurde. Er war indes noch allemal größer, als man
vermeinte; seine Begrenzung lag nicht so fest, wie man sich’s
einbildete.
Und heute? Liebe Gemeinde, heute wissen wir, nicht zuletzt
dank der Fürsprache Gollwitzers, wenigstens dies wieder, daß
das Gebot der Fürsprache zu den Elementen der biblischen,
mithin der jüdischen Überlieferung gehört. „Tu deinen Mund auf
für die Stummen“ – das ist ein Zitat aus dem Buch der Sprüche
Salomos, cap. 31, v. 8. Die Bibel widerspricht auf Schritt und
Tritt dem Stereotyp, die Juden seien, da zur Sympathie
unfähig, keine eigentlichen Menschen. Ich möchte den Passus
zitieren, dem Gollwitzer 1938 das Zitat entnahm:
„Könige, Lemuel, sollen keinen Wein trinken und Mächtige nicht
nach Bier verlangen. Sonst trinken sie und vergessen die
Satzung und beugen das Recht aller Elenden. Dem, der zugrunde
geht, gebt Bier, und Wein denen, die verbittert sind. Sie
sollen trinken und ihre Armut vergessen und nicht mehr an ihr
Elend denken. Öffne deinen Mund für den Stummen, für das Recht
aller Schwachen. Öffne deinen Mund, richte gerecht, und
schaffe Recht dem, der elend ist und arm.“ (Prov. 31, 4 – 9 in
der Übs. der neuen Zürcher Bibel)
Wie überraschend, wie sinnfällig richtet sich dieser Passus
gegen die Absichten und den Zustand des NS! Denn er sagt: Kein
Rausch für die Herrschenden, sondern Nüchternheit für die
Verantwortlichen! Herrschaft und Rausch sollen getrennt
werden. Wenn sie miteinander verschmelzen – wie im NS -, so
ist diese Verschmelzung Anzeige und Ursache des Unrechts. Bier
und Wein statt dessen zum Trost für die Elenden. Doch um sie
zu trösten, muß man sie erst einmal wiederentdecken, man muß
aufhören, sie zu übersehen – seid darum nüchtern! Diese
Weisung befolgte Jesus, indem er Gastmahl hielt mit jenen, die
von der guten Gesellschaft ausgeschlossen waren. Sind wir in
dieser Hinsicht Jesus treu?
Und nun lassen Sie mich einen letzten Schritt weiter gehen:
Ich sprach vorhin von dem Stereotyp des Antijudaismus und
Antisemitismus, die Juden seien eigentlich keine Menschen,
denn sie entbehrten der Fähigkeit der Sympathie; immer träten bei ihnen Berechnung und Gewinnsucht an deren Stelle. Doch am
Ende könnte sich herausstellen, was ihre kühle Haltung den
Christen gegenüber in Wirklichkeit bedeutet: Reserve gegenüber
dem am christlichen Dogma, was mißverständlich, im Gedanken
liederlich, zum Rausch führen kann – jenem Mystizimus, der
besagt: Wenn Gott Mensch werden kann, dann kann der Mensch
Gott werden. Gott ist Mensch geworden in Jesus. Wenn du dich
mit Jesus identifizierst, bist du auf dem Weg der Vergottung.
Ich meine, wir sollten diese Reserve um Jesu willen willkommen
heißen. Denn sie kann uns – im Sinne der erwähnten
salomonischen Mahnung – vor dem Rausch der Größe bewahren, der
uns dazu bringt, die Armen und Entrechteten zu übersehen.
Amen.