Predigt · Karfreitag · 29. März 2013 · Pfarrerin Ruth Misselwitz
Matthäus 27, 33 – 44
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Liebe Schwestern und Brüder, mit diesem Schrei endet im
Matthäusevangelium Jesus am Kreuz.
Ja, der Evangelist Matthäus erinnert sich anders an den schrecklichen
Tag als Johannes, den wir vorhin hörten.
Wir hören die Erzählung der Kreuzigung, wie sie uns Matthäus
überliefert hat:
Matth. 27,33-45…………………………………
Das ganze Elend, Spott und Hohn und am Ende die Verzweiflung der
Gottverlassenheit beschreibt Matthäus ungeschminkt und unzensiert.
Nicht mit einem Seufzer: „Es ist vollbracht“, begibt sich der
Gottessohn willig in die Hände Gottes,
sondern mit einem Schrei: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du
mich verlassen?“,
stirbt der Gottessohn bei Matthäus und übrigens auch bei Markus.
Liebe Schwestern und Brüder, das ist schrecklich und eigentlich gar
nicht auszuhalten.
Wenn selbst Jesus, der doch wie kein anderer Mensch so eng mit
Gott verbunden war,
in solch einer schrecklichen Einsamkeit und Verzweiflung stirbt,
wie soll es denn uns dann erst ergehen?
Wenn Matthäus nicht von Ostern her das ganze sehen würde, er
würde keinen einzigen Satz aufgeschrieben haben.
Die ganze Geschichte um Jesus würde als eine Episode unter vielen
anderen in Vergessenheit geraten sein.
Nun aber – nach Ostern – sieht das alles ganz anders aus.
Ja nach Ostern ist es möglich, dem ganzen Grauen ins Auge sehen zu
können, ohne daran verzweifeln zu müssen.
Nach Ostern hat das ganze Elend doch noch einen Sinn bekommen.
Liebe Schwestern und Brüder,
Matthäus scheut sich nicht davor, der Realität ins Auge zu schauen,
er scheut sich nicht davor, Jesus in seiner ganzen Hilflosigkeit zu
beschreiben,
wie er dem Spott und dem Hohn der Menschen ausgesetzt war.
Matthäus kann das, weil er erfahren hat, dass es Gott dabei nicht
belassen hat.
Auch wenn Jesus in so eine tiefe Verzweiflung fiel
und sich von Gott und der Welt verlassen fühlte,
Gott hat ihn nicht verlassen.
Liebe Schwestern und Brüder, das ist die frohe Botschaft in dieser
schrecklichen Geschichte.
„Du kannst nicht tiefer fallen als in Gottes Hände“ – so beschreibt es
ein alte Weisheit.
Und das heißt: Du kannst fallen, Du kannst in Verstrickungen und
dunkle Umstände geraten, die dir die Luft zum Atmen nehmen, das
Licht der Augen und die Ruhe deiner Seele,
du kannst in solch einen Zustand geraten, dass du an dir und der Welt
und an Gott verzweifelst, davor kann dich Gott nicht schützen,
aber wie tief du auch fällst, du wirst immer in die Hände Gottes
fallen,
spätestens beim Durchgang durch die Todespforte wirst du wieder
das Licht sehen.
Aber die Jünger und Jüngerinnen haben dieses Licht schon drei Tage
nach Jesus Tod gesehen, mitten unter ihnen, mitten im Leben.
Und deshalb sind sie nicht an der Welt und an Gott verzweifelt,
deshalb haben sie die Welt mit anderen Augen gesehen als vorher
und deshalb war das Leben und Sterben Jesu nicht umsonst,
so wie ihr eigenes Leben und Sterben nicht umsonst sein wird.
Es ist die Gewissheit, dass Gott einen Menschen, der sich an ihn
klammert, nirgends und niemals verlässt.
Davon zeugen schon die alten heiligen Texte, die Jesus auch kannte,
wie den Psalm 139, in dem es heißt:
„Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.
Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch, ich kann sie
nicht begreifen.“
Davon zeugt der Gottesname Jahwe, der übersetzt heißt: „Ich bin da“,
oder „ich bin mit dir“.
Aus diesem Glauben haben unzählige Menschen in der Geschichte
ihre Kraft genommen, den Willen Gottes zu tun,
den er im Leben und im Sterben Jesu der Welt gezeigt hat –
den Weg der Liebe, der Barmherzigkeit und der Gewaltlosigkeit.
Auch wenn man ihnen alles nahm – die Würde, den Besitz, das Leben
– das Beispiel Jesu am Kreuz war das Zeichen, dass Gott stärker ist
als der Tod und alle Macht der Welt,
wie pompös sie sich auch immer aufspielen mag.
Gewollt hat Gott diesen Tod nicht,
so wie er nirgends auf der Welt will,
das unschuldige Menschen umgebracht werden, vor Hunger sterben
oder an schrecklichen Krankheiten aus Mangel an Medikamenten
zugrunde gehen.
Es ist das Böse in uns Menschen, das all das auf dieser Welt
verursacht und zulässt.
Die Antwort Gottes auf dieses Böse aber ist so unbegreiflich wie
überwältigend –
dem Hass begegnet er mit Liebe,
der Gewalt mit Gewaltlosigkeit,
der Rache mit Vergebung.
Und daraus entsteht neues Leben
nicht nur nach dem Tod, sondern jetzt, hier und heute.
Liebe Schwestern und Brüder,
das Nagelkreuz, das nun schon 50 Jahre einen festen Platz in unserer
Kirche hat, zeugt von diesem neuen Leben.
Entnommen aus den Trümmern der englischen Stadt Coventry,
die von der deutschen Wehrmacht im 2. Weltkrieg total zerbombt
wurde,
wurde dieses Kreuz zu einem Symbol der Versöhnung und des
Friedens.
Keine Rache, sondern Versöhnung, so lautete die Botschaft, die aus Coventry hierher zu uns nach Deutschland kam,
dem Land aus dem die Fliegerbomber nach England abkommandiert
wurden.
So ist das Nagelkreuz,
das entnommen wurde aus den Trümmern einer Stadt, die voller Hass
und Verzweiflung war,
zu einem Symbol des Lebens
und der Überwindung von Gewalt und Tod geworden,
weil der damalige Propst von Coventry nicht zum Gewehr griff,
sondern zu den Nägeln aus den Trümmern der Kathedrale
und daraus ein Kreuz machte.
Liebe Schwestern und Brüder, so wird das Kreuz zum Baum des
Lebens, so entsteht aus Verzweiflung wieder neue Hoffnung.
Und wenn wir glauben, von Gott und aller Welt verlassen zu sein,
so lasst uns auf das Kreuz schauen – da ist Gott.
Amen.