Predigt · 14. Sonntag nach Trinitatis · 28. August 2016 · Pfarrerin Ruth Misselwitz
Römer 8, 12 – 17
„Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder“,
liebe Schwestern und Brüder,
dieser vielen von uns bekannte Satz hat vor 2000 Jahren der Apostel
Paulus an die Gemeinde in Rom geschrieben.
Der Brief an die Römer ist wohl der wichtigste Brief des Apostel
Paulus. Aus ihm haben in den 2000 Jahren Frauen und Männer
immer wieder wichtige Anregungen erhalten, um die Kirche zu
erneuern.
Auch der Reformator Martin Luther hat aus diesem Brief
entscheidende Impulse für die Reformation erhalten.
„Welche der Geist Gottes triebt, die sind Gottes Kinder“,
dieser Satz entspringt dem Predigttext, der für den heutigen Sonntag
bestimmt ist und ich möchte ihn in der Übersetzung aus der Bibel in
gerechter Sprache vorlesen:
12Folglich nun, Geschwister, sind wir nicht den begrenzten
menschlichen Verhältnissen verpflichtet, unser Leben nach
ihren Maßstäben zu gestalten. 13Wenn ihr nämlich in
menschlichen Grenzen gefangen lebt, werdet ihr
unausweichlich sterben. Wenn ihr aber mit Hilfe der Geistkraft
den Zuständen ein Ende macht, in denen eure Körper benutzt
werden, dann werdet ihr leben. 14 Alle, die sich von der
göttlichen Geistkraft leiten lassen, sind Töchter und Söhne
Gottes. 15Denn ihr habt ja nicht eine Geistkraft erhalten, die
euch zu Sklaven und Sklavinnen macht, so dass ihr weiterhin
in Angst leben müsstet. Ihr habt eine Geistkraft empfangen, die
euch zu Töchtern und Söhnen Gottes macht. Durch sie können
wir zu Gott schreien: »Du Ursprung allen Lebens, sei unser
Schutz!« 16Die Geistkraft selbst bezeugt es zusammen mit
unserer Geistkraft, dass wir Kinder Gottes sind. 17Wenn wir
aber Kinder Gottes sind, dann bekommen wir auch einen Anteil
von dem, was ihr gehört. Wenn wir einen Anteil vom Reichtum
Gottes erhalten, verbindet uns das mit dem Messias, so
gewiss wir sein Schicksal teilen, auf dass auch wir zusammen
mit ihm von Gottes Glanz erfüllt werden.
Liebe Schwestern und Brüder,
in der Taufe glauben und bekennen wir, dass der Heilige Geist uns
verliehen wird
und wir uns als Töchter und Söhne Gottes erkennen.
So wie wir es in der Geschichte von Jesu Taufe hören, als er sich im
Jordan taufen ließ:
„und der Heilige Geist fuhr hernieder auf ihn in leiblicher Gestalt wie
eine Taube, und eine Stimme kam aus dem Himmel: Du bist mein
lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.“
So ist die Taufe ein öffentlicher Akt, ein Datum, ein Geschehen, an
dem wir unsere Gotteskindschaft festmachen können.
Da aber bekannter Maßen der Heilige Geist sich nicht einengen lässt
auf Rituale, Religionen oder Kulturen,
sondern da weht wo er will,
weiß Paulus über die Gotteskindschaft auch mehr zu sagen –
nämlich:
„Alle, die sich von der göttlichen Geistkraft leiten lassen, sind
Töchter und Söhne Gottes.“
Das sagt er der Gemeinde in Rom, die sich zum größten Teil
zusammensetzt aus ehemaligen römischen Kriegssklaven,
aus Frauen, die in Leibeigenschaft dienen mussten, aus Analphabetenund an den Rand Gedrängten –
also aus Menschen, die alles andere als frei waren.
„Denn ihr habt ja nicht eine Geistkraft erhalten, die euch zu
Sklaven und Sklavinnen macht, so dass ihr weiterhin in Angst
leben müsstet. Ihr habt eine Geistkraft empfangen, die euch zu
Töchtern und Söhnen Gottes macht.“
Sklaven und Sklavinnen gehörten in der Antike zum Besitz des
Hausherren. Er konnte über sein „Vermögen“ verfügen.
Die Sklaven mussten immer verfügbar sein,
hatten keine Rechte und keine Entscheidungsgewalt,
sie wurden entmündigt und waren somit restlos abhängig vom Herrn.
Anders die Töchter und Söhne – auch sie waren vom Hausherrn
abhängig –
aber mit dem Unterschied, dass sie erbberechtigt waren,
sich später selbstständig machen konnten und mündig und
eigenverantwortlich leben konnten.
„Sind wir aber Kinder, dann sind wir auch Erben, nämlich Gottes
Erben und Miterben Christi.“ – so schreibt Paulus an die Gemeinde.
Solch ein Satz zu ehemaligen Sklaven gesprochen, hat eine
unglaubliche befreiende Wirkung.
Er ist die Anerkennung und Wiedergutmachung der verletzten
Menschenwürde.
Er ist das Aufrichten der in den Staub Getretenen,
er ist die Heilung der an Leib und Seele verletzten Menschen.
„Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, dass ihr
euch abermals fürchten müsstet, sondern ihr habt einen kindlichen
Geist empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater!“
Der von solch einem sklavischen Geist befreite Mensch,
erkennt Gott nicht mehr als den Herrn, vor dem er sich fürchten
muss, sondern als den lieben Vater, die liebende Mutter,
aus deren Schoß er kommt,
durch die er versorgt und geborgen ist,
von der er bedingungslos gewollt und geliebt ist.
„Wenn wir aber Kinder Gottes sind, dann bekommen wir auch
einen Anteil von dem, was ihr gehört. Wenn wir einen Anteil
vom Reichtum Gottes erhalten, verbindet uns das mit dem
Messias, so gewiss wir sein Schicksal teilen, auf dass auch wir
zusammen mit ihm von Gottes Glanz erfüllt werden.“
Ihr armen geschundenen Menschen – ihr habt Anteil am Reichtum
Gottes, ihr werdet erfüllt von Gottes Glanz – so versichert es ihnen
Paulus.
In der Lutherübersetzung heißt es: „Sind wir aber Kinder, so sind wir
auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi…“
Liebe Schwestern und Brüder,
wer sich als Kind von dem oder derjenigen bezeichnet, der weiß
auch, was er für eine Erbschaft damit übertragen bekommen hat.
Da gibt es die materiellen Dinge, die man vererbt bekommt,
da gibt es aber auch die psychischen und physischen Erbanlagen –
wir sagen heute „Gene“ dazu, die wir von unseren Vorfahren
bekommen haben.
Wir fühlen uns also direkt mit unseren Ahnen verbunden, die uns das
eine oder andere vererbt haben
Und nun kam mir ein sehr aufregender und vielleicht sogar ketzerischer Gedanke: Wenn wir uns als Kinder Gottes verstehen,
haben wir dann auch die göttlichen Gene unseres göttlichen
Schöpfers geerbt?
Sind in uns göttliche Anteile, über die wir verfügen?
Liebe Schwestern und Brüder, darüber haben sich die Menschen von
Anbeginn der Menschheit Gedanken gemacht.
Im Schöpfungsbericht unserer Bibel heißt es: „Und Gott schuf den
Menschen nach seinem Bilde“,
und in der Paradiesgeschichte haucht Gott dem Klumpen aus Lehm
seinen göttlichen Odem ein, so das Leben in ihn kam
und Adam ein Gegenüber von Gott wurde.
Die Geschichten aus dem 1. und 2. Testament erzählen von dem
Segen Gottes, der sich ergießt als göttliche Kraftquelle über die
Menschen, die sich ihm anvertrauen.
So auch in der Geschichte von Jakob, der im Traum die
Himmelsleiter mit den Engeln sieht und den Segen Gottes empfängt
und daraufhin wieder Kraft hat, weiter zu gehen.
Die Mystikerinnen und Mystiker aus allen Hochreligionen sind dieser
göttlichen Quelle auf der Spur gewesen und haben sie mehr oder
weniger gefunden in dem göttlichen Funken, in der Quelle des
Lebens, in der Mitte der Seele – oder wie auch immer sie das nennen.
Abraham, Buddha, Jesus, Mohammed, Hildegard von Bingen, Martin
Luther, Mahatma Gandhi, Martin Buber, Edith Stein – und wie sie
alle heißen –
sie sind diesem göttlichen Erbe nahe gekommen
und haben eine Ahnung von seiner Kraft und seinem Glanz
bekommen.
Und aus ihnen ist der Glaube entstanden, dass jeder Mensch diesen
göttlichen Funken in sich trägt, er muss allerdings entdeckt und zum
Leuchten gebracht werden.
Liebe Schwestern und Brüder, wenn ich allerdings die heutige
Weltlage betrachte, dann überkommen mich doch beträchtliche
Zweifel über diese göttlichen Anteile des Menschen.
Das Ausmaß an Hass, Brutalität, Gewalt, Gier und Zerstörungswahn
übertrifft mein Vorstellungsvermögen.
Der Glaube an das Gute im Menschen weich
t nach und nach der
Angst vor dem Bösen im Menschen.
Und eine Nachricht, die ich vor einigen Tagen im Radio gehört habe,
dass im Weltraum ein Planet entdeckt wurde, der über ähnliche
Bedingungen wie die Erde verfügt und auf dem man sich durchaus
biologisches Leben vorstellen kann, löste bei mir Entsetzen aus – nun
plündert man auch noch die anderen Planeten. Der Mensch breitet
sich aus, wie ein gefährlicher Virus.
„Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder“ –
so höre ich und so will ich es glauben.
Diesem Geist will ich auf die Spur kommen, um diesen Geist will ich
ringen und beten und hoffen.
An dem Leben, Sterben und Auferstehen Jesu will ich mich
orientieren.
Seine Botschaft von Vergebung, Versöhnung, Barmherzigkeit,
Gewaltlosigkeit, Feindesliebe und Frieden will ich immer und immer
wieder ins Gedächtnis rufen und der Realität entgegen halten.
Wenn der Mensch zu Bösem fähig ist, dann ist er auch – und erst
recht – zu Gutem fähig.
Gott hat ihn dazu befähigt, sein Erbe anzutreten.
„Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel
vollkommen ist“ – so ermutigt Jesus seine kleine verängstigte Schar.
Ja, ihr schafft das, ihr seid dazu fähig, wenn ihr euch ganz in das
Vertrauen in Gott begebt und euch von dieser Liebe verwandeln lasst,
die das Böse und sogar den Tod überwindet.
Liebe Schwestern und Brüder,
und wenn ich dann in die Stille höre, dann kommt mir hin und wieder
eine Stimme entgegen, die zu mir sagt: Warum suchst du mich? Ich
bin doch da – ganz nah bei dir, um dich herum, unter dir, über dir, in
dir.
Du bist ein Kind Gottes, schau dich um und du siehst eine große
Schar von Kindern, die von diesem göttlichen Glanz erfüllt sind.
Amen.