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Predigt · Sexagesimae · 31. Januar 2016 · Pfarrerin Ruth Misselwitz

Posted on Feb 5, 2017 in Predigten

Hebräer 4, 12 – 13

Liebe Schwestern und Brüder!


Als wir letztens im Bibelkreis über diesen Text sprachen kamen
nach dem ersten Hören folgende Kommentare:
Der Text ist mir zu hart. Er bedroht mich und schüchtert mich
ein!“


„Oje. Solche scharfen Worte. Und ein Gott, der alles sieht und
dem nichts verborgen bleibt, der Rechenschaft fordert und
richtet. Das ist nicht der Gott, den ich kenne und an den ich
glaube!“
, waren die Worte einer anderen.


„Das habe ich schon als Kind immer hören müssen, dass Gott
alles sieht und ich bloß anständig sein soll.“


„Ja, aber kann denn alles egal sein? Sind wir nicht letztendlich
für unsere Taten verantwortlich, wenn Gott Richter ist, muss er
schon für Gerechtigkeit sorgen“


Ja, liebe Schwestern und Brüder,der Predigttext rüttelt auf,
reizt zu Widerspruch und Protest.


Dieser Text plätschert nicht sanft daher.
Er ist sperrig, zwiespältig und klingt für viele bedrohlich und
erschreckend.
Aber genau diese Ambivalenz des Textes macht ihn auch
spannend. Er fordert heraus und lässt nicht neutral.


Hier wird behauptet: Gottes Wort ist tatsächlich lebendig und
kräftig.
Es provoziert und rüttelt auf.


Das wird in den meisten Reaktionen zum Text, begrüßt und
positiv gesehen.


Anders aber die Aussage, dass das Wort schärfer ist als ein
zweischneidiges Schwert und scharf schneidet – das tut schon
allein beim Hören weh.


Dieses Wort also scheidet auch.


Es analysiert, trennt und sortiert.
Es fährt scharf durch Seele und Geist, Mark und Bein.


Und das bedeutet, dass der Mensch sich in seiner ganzen
Existenz angesprochen fühlt,
jede Faser seines Lebens berührt ist.


Gottes Wort wird als eine Kraft erlebt und beschrieben,
die den Menschen vollständig umfasst und erkennt.


Dieses Wort, das wie ein Schwert gesehen wird,
verschafft Klarheit von innen und außen.


Gottes Wort offenbart nicht nur das sichtbare und vorzeigbare
Handeln,
sondern auch die Gedanken und Sinne des Herzens.


Das Herz war nach damaliger Vorstellung der Ort des
Verstandes und der Motor unseres Handelns.


Gottes Wort also durchdringt einen bis in die tiefsten Schichten
und Ebenen unseres Wesens –


und das kann auch wehtun, weil es sich nicht durch
Äußerlichkeiten täuschen und ablenken lässt.


Was ist da in mir alles drin, was ich nicht wahrhaben, nicht erkennen will.


So kann Gottes Wort tatsächlich zum „einschneidenden
Erlebnis“ werden,


eine Erfahrung, die prägt und in Erinnerung bleibt, die unter
Umständen auch schneidend weh tun kann.


Liebe Schwestern und Brüder,


vielleicht haben sie schon einmal erlebt, dass durch irgend ein
Wort, ein Vorfall, ein Bild oder ein Ereignis
ihnen in aller Schärfe ein Blick in ihr Inneres eröffnet wurde
und sie – je nachdem – beschämt oder erstaunt –
sich ganz neu wahrgenommen haben.


Da kann es Tränen über sich geben,
da kann es aber auch ein freudiges Erstaunen geben.


Damals ca. 70 bis 80 Jahre nach Christus, versucht der
Verfasser oder die Verfasserin des Hebräerbrief mit solchen
scharfen Worten aufzurütteln.


Christen und Christinnen wurden von ihrer Umwelt
misstrauisch und skeptisch betrachtet.
Eine Christenverfolgung lag schon hinter ihnen. Eine neue
stand ihnen bevor.
Zwischen diesen beiden Verfolgungszeiten ist der Brief
vermutlich entstanden.


In dieser Unsicherheit und Angst wollte der Verfasser des
Hebräerbriefes, die Gläubigen mahnen und daran erinnern,
dass sie trotz aller Gefahren nicht vom Glauben an Jesus
Christus abfallen sollten.


Die Gemeinden sollten gestärkt werden.
Und in eben dieser Situation erfuhr man Gottes Wort
machtvoll, stark – aber auch scheidend.


Beliebigkeit konnte sich in einer solchen Situation niemand
leisten. Dafür war der persönliche Einsatz der Gläubigen viel
zu hoch.
So verwundert es wenig, dass Gott als Richter der Gedanken
und Sinne des Herzens bezeichnet wird.


Aber nicht nur der Mensch wird von ihm erkannt,
sondern die gesamte lebendige Schöpfung – alle Kreatur – ist
in Gottes Blickfeld einbezogen.


Nichts und Niemand geht vor den Augen Gottes verloren –
von der kleinsten Mücke angefangen bis zum mächtigsten
Herrscher der Welt.


Alles ist Gott gleichermaßen wichtig und wertvoll.


Und alle sind gleich vor Gott – gleich aufgedeckt und bloß.
Es gibt keine Hierarchie, keine Ausnahmen.


Gott sieht alle.


Genau diese Aussage erscheint vielen erschreckend, wie am
Anfang zu hören war.


Sie bedroht, denn sofort stellt sich für viele die Frage:
Was habe ich alles Schlimmes getan?
Was habe ich falsch gemacht?
Wofür wird mich Gott bestrafen?


Scham, Schutzlosigkeit und Angst vor Strafe sind die gängigen
Reaktionen.

Aber warum fürchten wir, dass nur die negativen Dinge in
unserem Innern bloßgelegt werden?


Solch ein scharfer Blick legt doch auch alle meine positiven
Gedanken, Wünsche und Taten offen, von denen ich vielleicht
gar nichts weiß.
Er legt doch auch alle meine gutgemeinten Bemühungen und
Anstrengungen offen, die nicht zum Erfolg führten.
All mein Scheitern, aus was für Gründen auch immer, wird
durch diesen Blick wahrgenommen und erkannt.


Im Predigttext steht nicht, dass Gott bestraft und niemand vor
ihm bestehen kann.
Es steht auch nicht, dass Gott mit dem Schwert tötet.
Es steht lediglich, dass Gott alles offen legt und wir uns für
unser Leben verantworten müssen.


Liebe Schwestern und Brüder, im Hebräischen wird für den
liebevollen Geschlechtsverkehr zwischen zwei Menschen das
Wort „erkennen“ verwandt.


„Und Adam erkannte Eva und sie wurde schwanger.“


Wenn sich Menschen einander anvertrauen,
sich nackt und bloß, ohne Schutz und Hülle einander
begegnen, dann erkennen sie sich.


Und diese Art von Erkennen wird nur ermöglicht durch
vollkommenes Vertrauen, aus der die Fähigkeit wächst,
sich gänzlich dem anderen auszuliefern.


Die Beziehung, die hier zwischen Gott und dem Menschen
beschrieben wird, ist solch ein vollkommenes und schutzloses
Ausgeliefertsein.


Nicht die Angst davor, was da alles bei diesem Erkennen zum
Vorschein kommen wird,
sondern das Vertrauen auf die Gnade und Barmherzigkeit
Gottes, der mich trotz alledem lieben und bewahren wird,
darf das Fundament sein, auf dem ich stehe.


Die Augen werden mir dann geöffnet und ich werde mich und
die Welt in einem ganz neuen Licht sehen.

Und das kann keiner so wunderbar beschreiben wie Paulus im 1.Korintherbrief im 13. Kapitel – im hohen Lied der Liebe:


„Wir sehen vorläufig nur ein rätselhaftes Spiegelbild;
dann aber von Angesicht zu Angesicht.
Heute erkenne ich bruchstückhaft; dann aber werde ich
erkennen, wie ich von Gott erkannt worden bin.
Jetzt aber leben wir mit Vertrauen, Hoffnung und Liebe –
diesen drei Geschenken. Und die größte Kraft von diesen
dreien ist die Liebe.“


Amen