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Predigt · Palmarum · 17. April 2011 · Pfarrerin Renate Kersten

Posted on Apr 20, 2011 in Predigten

Markus 14, 3 – 9

Und als er in Betanien war im Hause Simons des Aussätzigen und saß
zu Tisch, da kam eine Frau, die hatte ein Glas mit unverfälschtem und
kostbarem Nardenöl, und sie zerbrach das Glas und goss es auf sein
Haupt. Da wurden einige unwillig und sprachen untereinander: Was
soll diese Vergeudung des Salböls? Man hätte dieses Öl für mehr als
dreihundert Silbergroschen verkaufen können und das Geld den
Armen geben. Und sie fuhren sie an.
Jesus aber sprach: Lasst sie in Frieden! Was betrübt ihr sie? Sie hat
ein gutes Werk an mir getan. Denn ihr habt allezeit Arme bei euch, und
wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun; mich aber habt ihr nicht
allezeit. Sie hat getan, was sie konnte; sie hat meinen Leib im Voraus
gesalbt für mein Begräbnis. Wahrlich, ich sage euch: Wo das
Evangelium gepredigt wird in aller Welt, da wird man auch das sagen
zu ihrem Gedächtnis, was sie jetzt getan hat.


Liebe Gemeinde,


was war da eigentlich los? Viermal ist diese Geschichte in den
Evangelien überliefert, mit unterschiedlichen Akzenten. Immer steht
da: Eine Frau kommt herein, unvermittelt, und salbt Jesus. Der engste
Kreis um Jesus ist sehr ungehalten – in drei der Geschichten gibt es
das finanzielle Argument. Fast ein Jahresgehalt hat ist da verduftet. In
jeder Variante der Geschichte nimmt Jesus die Frau in Schutz und
rechtfertigt, was sie getan hat. Hier steht als Deutung: „Sie hat es für
mein Begräbnis getan, im Voraus.“
Mich erinnert die Salbung des Kopfes eher an die Königssalbung im
alten Israel. Christus, Messias – das heißt ja nichts anderes als „der
Gesalbte“. Die Königssalbung war freilich kein Ritual der Frauen, die
waren eher dran, wenn Tote einbalsamiert wurden. Etwas von beidem
hat es, von Krönung und Totensalbung. Und von Kindlichkeit und
verrückter Liebe. Es muss ein Moment gewesen sein, in dem die Frau
spürte: „Das muss ich jetzt einfach machen!“ Ganz ähnlich wie der
Einzug in Jerusalem, wo die Machtlosen ihren König für einen Tag
ausriefen und für einen Moment geglaubt haben mögen, es könne gut
gehen. Das sind Momente, in denen man nicht weiß, wie es ausgehen
wird, in denen das auch egal ist. Momente, in denen Hoffnung und
Liebe stark sind, in denen der Himmel offen steht. Momente, die
verfliegen wie der Duft des Öls.


Mutig war diese namenlose Frau. In meiner Vorstellung kommt der
unschöne Einwand der anderen nicht an sie heran. Sie bleibt, weil
Jesus sie in Schutz nimmt, wie von den anderen getrennt. Eine
Fremde, Unbenannte, mit der Jesus hier ganz einig ist. Und dann gibt
es die Gruppe, die immer da ist. Eine kleine Gemeinde. Ein bisschen
wie wir. Wir wissen Bescheid, wenn es um Jesus geht, und wie man
sich da benimmt. Wir wissen, welche Argumente, Lieder und Gebete
üblich sind, und was hier eher unpassend ist – ohne viel darüber
nachzudenken, woran sich das „unpassend“ bemisst. „Was eine Verschwendung, damit hätte man doch…“ – wer hätte diesen Satz
nicht schon gesagt und gedacht. Ich weiß immer ganz gut, was andere
mit ihrem Geld anfangen sollten… Jesus trennt die Frau und die
anderen, indem er beide bei ihrem Reden und Tun belässt. Er sagt
nicht: So wie die solltet ihr werden. Und er gibt der Frau keinen
anderen, neuen Auftrag.


Der kleinen Gemeinde gibt Jesus Antwort auf ihr Argument: Mit dem,
was dieses Öl wert war, hätte man den Armen helfen können. „Ihr habt
allezeit Arme bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun.“
Ein einfacher Satz. Nicht die große Weisheit des Meisters, sondern ein
geradezu banaler Satz. „Ihr habt allezeit Arme bei euch, und wenn ihr
wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun.“ Eine Wahrheit, von der ich den
Eindruck habe, dass wir sie oft in uns selbst verschlossen halten.
Jesus spricht seine Gemeinde, die sich vielleicht schon immer gern
hilflos und ohnmächtig fühlte, auf ihre Macht an, ihre Power, auf das,
was geht – „wenn ihr wollt“. Er sagt nicht: Ihr könnt die Armut in der
Welt abschaffen. Aber: Wenn es euch wirklich um die Armen geht –
dann legt los!
Und er hat Recht. Wir haben Zeit. Ein überschaubares Maß, aber wir
haben sie. Wir haben Geld. Noch nie war so viel Vermögen wie heute
in privater Hand. Und wir wissen, wie man hilft – oder was man tun
muss, um sich zu informieren und dann nachhaltig zu helfen. Wir
wissen auch längst, dass mit der Wendung „Armen Gutes tun“ kein
Abspeisen gemeint sein kann. Geld, dessen Fehlen man selbst nicht
bemerkt, irgendwo hingeben, als Reflex des eigenen schlechten
Gewissens, ohne sich auf andere wirklich einzulassen – das lässt sich
nicht als „Gutes tun“ bezeichnen. Armut hört erst auf, wenn geteilt wird.
Erst, wenn sich der Kreis öffnet und zulässt, dass die, die anders sind,
dazu gehören, erst dann hört das Elend auf. So hat Jesus das
vorgelebt, wenn er mit den Armen ebenso feierte wie mit den reichen
und korrupten Zöllnern, die wir immer als so arm empfinden, weil sie
von der Gemeinschaft ausgeschlossen waren. Armut der Verachtung.
Wer „arm“ ist, steht nur scheinbar fest. Armut gibt es in vieler Hinsicht.
„Draußen“ ist nicht nur, wer finanziell „nicht mithalten“ kann. Es gibt
auch eine Armut sozialer Fähigkeiten, Armut aus Krankheit heraus und
ein Armsein der Seele. Jeder Mensch hat arme Seiten. Die sichtbar
Armen sind deshalb so gemieden, weil sie diese Seite in uns
ansprechen, sichtbar machen. Es macht Angst zu spüren: Das könnte
ich sein. Die Lösung der Gruppe hier: Geld den Armen geben, das
schlechte Gewissen beruhigen – und dann muss man weder über den
großen Betrag noch über die Armen weiter nachdenken.


In den Augen der kleinen Gemeinde um Jesus Christus wurde das Öl
verschwendet, während man Armen hätte Gutes tun können. Hier ist
die Erzählung auch ironisch. Die, die nah dran waren, erkannten nicht,
dass Jesus gerade auf dem Weg in die absolute Armut war. Gegen
den Willen des engsten Kreises, der ihn umgab, ging Jesus damals
den Weg in den Tod. Er nahm Abschied von dieser Welt, von diesem
Leben. Von sich selbst. Die Runde damals hatte ihn als Armen unter sich und merkte es nicht. Er wurde einsam in dieser letzten Zeit, trotz
der Menschen um ihn. Die ihm widersprachen, betonten, so schlimm
werde es schon nicht, er solle nicht vom Leiden reden, oder, ganz
pragmatisch: Er könne sich ja mal für eine Weile zurückhalten und
müsse ja nicht unbedingt jetzt, wo es brezlig sei, nach Jerusalem.
Jesus sollte nicht arm, hilflos und ausgeliefert sein. Gegen den Willen
seiner auf eine dezente Weise erfolgsorientierten Gemeinde wurde er
zum völlig Armen. Es ist nicht leicht, an diesem Punkt über Nachfolge
nachzudenken.


Doch Jesus wurde nicht als Selbstzweck arm, er solidarisierte sich
nicht aus ideologischem Prinzip, sondern mit einem Ziel. Er wollte die
Ausgestoßenen zurückbringen, wollte, dass der Kreis sich öffne. Wenn
Arme und Reiche, wenn Menschen mit ihren armen und reichen Seiten
eine Gemeinde sind, wenn sie dafür sorgen, dass alle
menschenwürdig leben können – denn als Brüder und Schwestern
lässt man einander nicht hängen – wenn die Gemeinde offen und
grenzenlos wird, dann wird die Schöpfung neu. Um alle
zurückzubringen ging Jesus auf die Seite aller Verlorenen. Und dort ist
er bis heute zu finden. Während wir nachdenken, wie weit wir gehen
können, wie weit wir teilen und uns einlassen können, ist er schon bei
jedem Menschen, der ausgeschlossen ist – von Gütern, von Bildung,
von Teilhabe, von Spiritualität. Kurz: Vom Dazugehören. Dorthin hat
er sich gestellt, und er ging den Weg so weit nach draußen, dass er
zum Verurteilten und Hingerichteten wurde. Noch die Toten sollten
zurückgebracht werden in die Gemeinschaft mit Gott.


In seiner Armut hat ihn diese Frau gefunden, geachtet und lieb gehabt.
Eine kleine Geste, ein verschwenderischer Moment. Jemand, der zu
Jesus kam, als er schon au der Seite der Ausgelieferten war und
immer einsamer wurde. Jemand, der für ihn da war, nicht nur etwas
von ihm wollte. Die Frauen waren es, die an Jesus glaubten, als nichts
mehr zu holen war. Sie waren wie ein Spiegel dessen, was Jesus
gelebt hatte. Er hatte doch an den Zöllner geglaubt, und an den
blinden Bettler, und an all die anderen, und hatte sie zurückgebracht,
hatte ihnen Gott und das Leben neu geschenkt.
Jesus hatte die Gabe, dort Leben zu sehen, wo andere das Grau des
beginnenden Todes sahen. In der Passionsgeschichte waren es die
Frauen, die bei Jesus immer noch das Leben sahen, als andere ihn
schon aufgegeben hatten.


Wir beginnen heute die Karwoche und bedenken wieder den Weg vom
Tod zum Leben. Jesus Christus selbst, so heißt es, hat es uns nahe
gelegt, dabei die Geschichte dieser unbekannten Frau zu bedenken:
„Wo das Evangelium gepredigt wird in aller Welt, da wird man auch
das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie jetzt getan hat.“
Die Liebe und ein verwegenes Vertrauen hatten sie ergreifen. Gottes Geist vor dem kein Mensch sicher ist – was ein Glück.

Mag sein, dass seine Kraft uns dazu bringt, Armen den Kreis zu
öffnen, und dass wir sie als Persönlichkeiten mit Namen und
Geschichte entdecken. Mag sein, dass wir merken: Hier, bei den
Armen, ist Christus, schon längst – und freut sich, dass wir ihn mit
ihnen in den Kreis bitten.
Mag sein, die Liebe und das Vertrauen bringen uns dazu, in dieser
Woche wie in dem Raum damals sitzen zu bleiben, dem Duft des Öls
hinterherzuschnuppern und für eine Zeit das Rechnen zu vergessen.
Vielleicht ist es jetzt nicht Zeit, loszugehen, sondern sich finden zu
lassen. Zuzulassen, dass Christus mich und dich findet, und dass der
Gesalbte sich zu uns in unserer Armut setzt, bis wir unseren Reichtum
spüren und aus vollem Herzen schenken können. Amen.