//

Ansprache · Altjahresabend · 31. 12. 2024 · Michael Hufen

Posted on Jan. 1, 2025 in Predigten

Liebe Sylvestergemeinde

Zwischen Alljährlichem und Neuem, zwischen Aktuellem und Grundsätzlichem sind wir hier an diesem Altjahresabend und so sah ich mich auch beim Schreiben dieser Andacht.

Alljährlich am 31. Dezember dem Tag des Heiligen Sylvester begehen wir den Jahreswechsel. Und dieser Tag ist auf ganz erstaunliche Weise mit fast rituellen Handlungen aufgeladen und angefüllt, die sich aus der eigentlichen Begründung des Tages so nicht wirklich ergeben.

Die meisten Feste, die wir feiern, haben ihre Wurzeln in jahreszeitlichen oder christlich gesprochen: heilsgeschichtlichen Grund. Im Frühjahr sind vom Eise befreit Strom und Bäche, das Vegetationsjahr beginnt neu und die so begründeten Feste sind lebensweltlich mit dem Leben und Überleben der Menschen verbunden – Wachsen und Reifen, Ernten und Vergehen. Eine heilsgeschichtliche Überschreibung erfuhren diese Feste erst später. Neues Leben – eine neue Weltsicht zu Ostern und Hoffnung auf Rettung, Frieden und Zukunft in der dunkelsten Zeit des Jahres zu Weihnachten, möchte ich hier nur als zwei Beispiele kurz erwähnen.

Die ältesten Kalender orientierten sich vor der Sesshaftwerdung der Menschen an Tierwanderungen, nach der Sesshaftwerdung am Vegetationszyklus. Später kamen dann Kalender, die sich am Mondzyklus und dann am Sonnenzyklus orientierten.

Die Festsetzung des Altjahresabends am 31.12. als Ende und des Neujahrstages am 1.1. hat nun damit nichts mehr zu tun. Und trotzdem ist diesen beiden Tagen im Laufe der Zeit eine Bedeutung zugewachsen – für Rückblicke- und Ausblicke.

In diesen Tagen wird eine – menschheitsgeschichtlich neue Fokussierung auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erlebbar, die eigentlich erst im 17. Jahrhundert einsetzt. Waren Kalender bis dahin meist eng bedruckt mit wissenswerten Fakten, Texten und Anekdoten, bekamen sie nun Raum für eigene persönliche Eintragungen.

Und so stehen wir auch in diesem Jahr an der Schwelle zum neuen Jahr. Überlegen, was wir Gott mit dem vergangenen Jahr zurückgeben und was wir mit dem in wenigen Stunden beginnenden aus seiner Hand zugeeignet oder auch zugemutet bekommen.

Und je nach eigenem Erleben geben wir das Jahr 2024 dankbar und ohne Groll zurück oder würden es vielleicht auch lieber Gott vor die Füße werfen. Und je nach eigener Weltsicht und persönlicher Haltung nehmen wir das neue dankbar und ohne Zittern oder mehr als zögerlich, sorgenvoll und mit Zukunftsangst.

In der Bibel finden sich aus gerade beschrieben Gründen keine Texte, die explizit für einen Jahreswechsel, eines nach mathematisch Grundsätzen erstellten Kalenders, gedacht sind.

In den Texten, die für den heutigen Tag ausgewählt sind, geht es um Übergänge und Herausforderungen. Um Schwellen, die wir Menschen auf unserem Lebensweg überschreiten, ja immer wieder überschreiten müssen, wie schwer uns das auch fallen wird. Wir können heute viel über Schwellenängste sagen und psychologisieren: warum wir das Alte noch mit uns tragen und es gerade nicht hinter uns lassen können und was wir alles vom Neuen erwarten. Was uns hindert und was uns hoffentlich motiviert.

Die Bibel gibt Lebensorientierung für ein Leben, das nach Erich Kästner „immer lebensgefährlich“ ist und bleibt. Nun soll uns diese Weisheit des alten Melancholikers Kästner, aus viel Whisky und noch mehr Zigaretten nach dem 2. Weltkrieg destilliert, nicht zu einer grundskeptischen oder gar zynischen Weltsicht leiten, sondern vielmehr helfen einerseits zu erkennen, dass wir das in unserer westlichen, scheinbar so aufgeräumten Welt vielleicht einfach vergessen haben und – und deshalb sind wir ja heute auch hier in der Kirche – bedenken lassen, was uns die alten Texte der Bibel an die Hand gibt, dieses Leben zu bestehen und die Hoffnung, wenn nicht gar Freude daran nicht zu verlieren.

Die Bibel erzählt von den Israeliten am Schilfmeer bei der Flucht aus Ägypten, die Wüste und die sie verfolgenden Ägypter hinter sich, die weite – nicht weniger mit Ängsten verbundene – Wasserfläche des Schilfmeeres vor sich. Ungewisse Zukunft, rückwärtsgewandte Sehnsucht nach den Fleischtöpfen Ägyptens und damit der Sklaverei oder Vertrauen auf das verheißene Land, in dem Milch und Honig fließen. Ein Übergang, den sie bewältigen, wenn sie der Wolkensäule als Zeichen Gottes am Tag und seiner Feuersäule bei Nacht folgen.

Beim Propheten Jesaja heißt es, dass Himmel und Erde vergehen, aber die Gerechtigkeit Gottes und sein Heil bestehen bleiben. 

Hier bei Jesaja findet sich aber auch ein Satz, der uns eine Perspektive für neue Jahr gibt, die der über allem schwebenden und seltsam fremd und manchmal unglaublichen Heilszusage ein Fundament gibt: „Schaut den Fels, aus dem ihr gehauen seid, und des Brunnen Schacht, aus dem ihr gegraben seid.“

Mir fiel dazu ein Vers des mittelalterlichen Mystikers Meister Eckart ein:

Wenn ein Meister ein Bild macht aus einem Stück Holz oder einem Stein, so trägt er das Bild nicht in das Holz hinein; vielmehr schneidet er die Späne ab, die das Bild verborgen und verdeckt hatten. Er gibt dem Holz nichts, sondern er entfernt das Äußere und lässt den Rest verschwinden, und dann erglänzt, was darunter verborgen lag.

Ein Felsenblock, der nur dem erfahrenen Auge des Bildhauers sein Innerstes als Freizulegendes zu erkennen gibt, der unbearbeitete Boden, in dessen tiefen Grund lebensspendendes Wasser zu finden ist. Und doch ist es beides schon da, bevor wir etwas dazu tun – können.

Tröstend und nicht vertröstend. Die Spannung aushaltend vom „noch nicht“ und „doch schon“.

In diesem Vertrauen vom alten Jahr Abschied nehmen, bei allem was wir mit uns tragen und vor allem getrost ins neue Jahr gehen und dabei in der Gewissheit leben, die uns Paulus im Römerbrief besonders auch für den heutigen Tag an der Schwelle zum neuen Jahr sagt: Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.

Das wünsche ich uns allem von Herzen an diesem Sylvesterabend!

Amen