//

Predigt · 10. Sonntag nach Trinitatis (Israelsonntag) · 4. 8. 2024 · Pfarrerin i.R. Ruth Misselwitz · 5. Mose 30, 1-6

Posted on Aug 4, 2024 in Predigten

Liebe Schwestern und Brüder,
der 10. Sonntag nach Trinitatis, den wir heute begehen,
ist in der Ordnung des Kirchenjahres seit der Reformationszeit der
Israelsonntag.
An ihm wird der Zerstörung des Tempels in Jerusalem gedacht –
das erste mal im Jahre 587 v. Chr. durch die Babylonier –
das zweite mal im Jahr 70 n. Chr. durch die Römer.


Der Predigttext, der von unserer Kirche dafür ausgesucht wurde,
kommt aus dem 5. Buch Mose 30,1-6


1 Wenn nun dies alles über dich kommt, es sei der Segen oder der
Fluch, die ich dir vorgelegt habe, und du es zu Herzen nimmst, wenn
du unter den Heiden bist, unter die dich der HERR, dein Gott,
verstoßen hat, 2 und du dich bekehrst zu dem HERRN, deinem Gott,
dass du seiner Stimme gehorchst, du und deine Kinder, von ganzem
Herzen und von ganzer Seele in allem, was ich dir heute gebiete, 3
so wird der HERR, dein Gott, deine Gefangenschaft wenden und sich
deiner erbarmen und wird dich wieder sammeln aus allen Völkern,
unter die dich der HERR, dein Gott, verstreut hat. 4 Wenn du bis ans
Ende des Himmels verstoßen wärst, so wird dich doch der HERR,
dein Gott, von dort sammeln und dich von dort holen 5 und wird
dich in das Land bringen, das deine Väter besessen haben, und du
wirst es einnehmen, und er wird dir Gutes tun und dich zahlreicher
machen, als deine Väter waren. 6 Und der HERR, dein Gott, wird
dein Herz beschneiden und das Herz deiner Nachkommen, damit du
den HERRN, deinen Gott, liebst von ganzem Herzen und von ganzer
Seele, auf dass du am Leben bleibst.


Diese Worte spricht Mose im Lande Moab kurz vor dem Eintritt in das gelobte Land nach der 40-jährigen Wüstenwanderung.
Ihm selbst bleibt dieses Ereignis verwehrt, er stirbt auf dem Berge
Nebo mit Blick auf das ersehnte Land Kanaan und wird begraben von
Gott selbst an einem Ort, den bis heute kein Mensch erfahren hat.


Die Worte, die Mose als Vermächtnis kurz vor dem Eintritt ins
gelobte Land zu den Israeliten spricht,
gelten als dichtestes und wichtigstes theologisches Dokument im
Judentum.
Es ist der Bund zwischen Gott und Israel vor der Sesshaftwerdung,
vor der Staatengründung.
In ihm verspricht Gott seinem Volk Segen, Heil und Frieden, wenn
es seinem Gott treu bleibt und seine Gebote einhält.
Fluch und Zerstörung aber, wenn es untreu wird und die Regeln des
von Gott gegebenen Zusammenlebens missachtet.


Der uns vorliegende Text stammt aus einer Zeit,
in der das Volk Israel das Schicksal von Zerstörung, Vertreibung und
Heimatlosigkeit schon etliche male erlebt hat.
Die Zerstörung des Staates Israel und des Tempels in Jerusalem durch
die Babylonier liegt hinter ihnen,


die Aussicht auf die Befreiung aus der Gefangenschaft und der
Wiederaufbau des Tempels liegt vor ihnen.


Die jüdischen Geschichtsschreiber schauen zurück auf all die
Ereignisse, die das Volk Israel in seiner langen Geschichte
heimgesucht hat
und deuten Frieden und Wohlergehen als Folge der Treue und des
Gehorsams seinem Gott gegenüber,
Zerstörung und Vertreibung aber als Folge von Untreue und
Ungehorsam.


Der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung – Handeln und die daraus entstehenden Folgen –
werden genau erkannt und einem göttlichen Plan zugeordnet.


Auch dass sich schuldhaftes Verhalten über mehrere Generationen
fortsetzt, kommt in dem biblischen Wort zum Ausdruck:


„Ich der Herr bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter
heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die
mich hassen, aber Barmherzigkeit erweist an vielen tausenden, die
mich lieben und meine Gebote halten.“
(5. Mose 5,9,10)


Heute weiß man aus der Friedens- und Konfliktforschung,
dass Gewalterfahrungen drei bis vier Generationen weiter gegeben
werden können,
im privaten wie im gesellschaftlichen Bereich.
Gewalt in der Familie oder Gewalt durch Krieg und Vertreibung
belasten über mehrere Genrationen die familiären und internationalen
Beziehungen.


All diesen Unheiltestexten aber sind Heilstexte gegenüber gestellt.
So heißt es in unserem Predigttext:


Wenn Du Gott liebst und seine Gebote befolgst, wird Gott


„deine Gefangenschaft wenden und sich deiner erbarmen und wird
dich wieder sammeln aus allen Völkern, unter die dich der HERR,
dein Gott, verstreut hat. 4 Wenn du bis ans Ende des Himmels
verstoßen wärst, so wird dich doch der HERR, dein Gott, von dort
sammeln und dich von dort holen 5 und wird dich in das Land
bringen, das deine Väter besessen haben,“


Auch der Fluch der bösen Tat, der die Kinder und Kindeskinder
heimsucht, kann aufgelöst werden durch die Hinwendung zu Gott
und das Einhalten seiner Regeln.

Denn Gott wird „Barmherzigkeit erweisen an vielen tausenden, die
ihn lieben und seine Gebote halten“.


Selbst im größten Unglück, im schlimmsten Leid gibt es die
Möglichkeit eines Ausweges, eines Neuanfangs.


Liebe Schwestern und Brüder,
uns ist für diesen Ausweg das Wort „Buße“ bekannt.


Im 1. Testament wird es von den Propheten immer und immer wieder
gebraucht, um Israel von seinem unheilvollem Tun abzubringen,
das es ins Verderben stürzen wird.


Im 2. Testament wird es zuerst von Johannes dem Täufer und dann
von Jesus gebraucht, um das Unheil, das Israel droht und das beide
voraussehen, abzuwenden.


Buße – das griechische Wort dafür heißt „metanoia“
und bedeutet:
Umkehr, Sinnesänderung, Änderung der Ansicht, der Geisteshaltung


Es ist also nicht ein Akt der äußeren Zurschaustellung mit dem
Umhängen eines Büßergewandes oder mit Lippenbekenntnissen vor
den Kameras,
nein es ist ein Akt der radikalen Änderung des eingeschlagenen
Weges, der ins Unheil führt –
ein neues Denken, ein neues Handeln, eine neue Strategie.


Liebe Schwestern und Brüder,
ich habe in meinem langen Leben die Erfahrung gemacht,
dass nichts sicher ist.
Das Glück, die Freude, der Frieden und der Wohlstand können einem
so schnell durch die Finger zerrinnen wie feinkörniger Sand.

Das ist auch eine Erkenntnis, die das Volk Israel durch die
Jahrtausende hindurch gemacht hat.


Die Ankunft im gelobten Land, das Sesshaftwerden, das Bauen und
Bepflanzen der Äcker und Wiesen,
die Herstellung des prächtigen Tempels in der Hauptstadt Jerusalem,
das Handeln und Wandeln in den vertrauten Bahnen –
all das ist immer und immer wieder beendet und zerstört worden.


Auf die Frage warum – gibt die Bibel die Antwort:
Gottesferne und Missachtung der Regeln Gottes.


Dabei finde ich eines sehr bemerkenswert:
Die Propheten suchen die Ursache für das Unglück nicht bei den
anderen, bei den Feinden und den Ungläubigen –
nein – sie suchen die Ursache im eigenen Verhalten.


Nun können wir zu Recht empört fragen, wodurch die Juden den
Holocaust verursacht haben,
der schlimmsten Grausamkeit gegenüber dem Volk Israel.


Meine Antwort darauf ist: Durch nichts und wieder nichts –
Nichts kann das erklären oder gar rechtfertigen, was zu ihrer
Auslöschung führen sollte.


Aber die Frage an uns Christen und Nichtchristen steht zu Recht im
Raum:
Wie konnten wir das Zulassen und dabei zusehen?
Und uns Deutsche drückt dabei die größte Schuldenlast.


Das Volk Israel hat nach dem 2. Weltkrieg die Chance eines
Neuanfangs mit dem Staat Israel bekommen –
endlich nach 2000 Jahren.

Heute sehen wir mit großer Sorge auf die furchtbaren
Gewaltausbrüche zwischen den Palästinensern und den Israelis.
Menschenrechtsverletzungen auf beiden Seiten stellt der
internationale Gerichtshof fest.
Der Krieg droht sich auf die gesamte Region auszuweiten und die
Existenz Israels zu gefährden.
Und die bange Frage treibt uns um: Wer kann dem Einhalt gebieten?


Und wie sieht es hier bei uns aus?
Nach jahrelanger mühseliger Arbeit auf beiden Seiten, in Ost und
West, fiel am 9. November 1989 die Mauer und das geteilte Europa
fand wieder zusammen.
Auch unser Land wurde wieder vereint.
Ich habe es auch als ein großes Geschenk erfahren.


Unsere Nachbarn und viele andere Völker haben sich mit uns gefreut,
die Angst vor einem starken militaristischen Deutschland war einem
Vertrauen in ein friedliches Deutschland gewichen.


Nun nach mehr als 30 Jahren hat sich Deutschland wieder in die
Führungsposition von Rüstungsindustrie und Waffenlieferungen
gestellt,
die alte Feindschaft zu Russland ist wieder entflammt,
wieder sollen atomare Mittelstreckenraketen in unserem Land
stationiert werden.


Verspielen wir gerade die Chance unserer Wiedervereinigung?
Verspielen wir gerade den mühselig errungenen Frieden in Europa
und in unserem Land?


Liebe Schwestern und Brüder,
den Ruf nach Buße – nach Umkehr, Gesinnungswandel, nach einer
neuen Geisteshaltung kann niemand zum Schweigen bringen.

Wir hören sie aus den Texten der Propheten und aus dem Munde Jesu
und seiner Apostel.


Die Regeln des alten Bundes mit den Geboten,
die das Töten verbieten,
die Gier und den Neid nach Haus und Besitz des anderen anprangern,
die Einhaltung von Ruhe und Arbeit einfordern für Mensch und Tier
und Landwirtschaft,
das Recht der Witwen, Waisen und Fremden im Lande verteidigen
und vieles andere mehr
sind für uns genauso bindend wie die Regeln, die uns Jesu
aufgetragen hat in der Bergpredigt –
barmherzig zu sein, Frieden zu stiften, nach Recht und Gerechtigkeit
zu trachten, die Feinde zu lieben, keine Gewalt anzuwenden und
Brücken zu bauen zwischen befeindeten Lagern.


Jeder Mensch – ohne Ausnahme – hat ein Recht auf Frieden und
soziale Sicherheit
und auch die Tier- und Pflanzenwelt hat ein Recht auf Schutz und
Pflege,
aber das alles ist nicht selbstverständlich,
immer wieder müssen wir darum erneut ringen.


Nichts ist beständig auf dieser Erde,
das einzige, was Bestand hat, ist die Zusage Gottes,
diese Welt zu retten
und uns beizustehen, wenn wir uns um sein Reich bemühen.


Und dabei zählt nicht der unmittelbare sichtbare Erfolg,
sondern das Vertrauen in Gott und in seine gute Schöpfung.


Stehe Gott uns bei und schenke uns dafür die Kraft und seinen Segen.
Amen.