Predigt · Reformationstag · 31. Oktober 2023 · Pastor Thies Gundlach
Gnade sei mit uns und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen
Liebe Gemeinde,
Martin Luther wollte die Reformation seiner katholischen Kirche an Haupt und Gliedern, eine Erneuerung, besser eine Wiederherstellung der ursprünglichen Kirche. Kirchenspaltung, Konfessionssplitterung, gar Glaubenskriege waren zweifellos nicht seine Intention, wenn auch sein heftiger, mitunter unerträglich polemischer Charakter manches zur Verschärfung der Situation beigetragen hat. Luther wollte die Erneuerung der einen Kirche – gekommen aber sind die vielen Konfessionen und Kirchen. Luther wollte die Rückkehr zum Urchristentums, – und gekommen sind Synodenerklärungen mit dem Esprit eines Telefonbuches. Luther wollte zum unverfälschten Bekenntnis der ersten Christen zurück, – gekommen aber sind die synodalen Sowohl – Als auch-Erklärungen. Luther wollte die weltliche Allmacht der Kirche brechen, – gekommen aber sind Beamtenrecht, Mitarbeitervertretung und ein Gremienwesen, das die EU-Behörde in Brüssel zu einer Art `Sponti-Treffen` macht.. Vergleicht man die Intentionen der Reformation mit der heutigen Lage unser Kirche, dann muß ein Reformationsgottesdienst eigentlich die Form einer Klageliturgie haben. Denn der Aufbruch der Reformation ist versandet in einer Kirche, deren Charme wie eine mittelschwere Landschildkröte wirkt: Nach außen hart und kühl, innen langsam und bei jeder Erschütterung zieht sie sofort den Kopf ein.
Liebe Gemeinde, das ist böse gesagt, natürlich, aber diese oder ähnliche Kritik an der Kirche ist keineswegs originell; immer schon scheint die verfasste, die organisierte Kirche dem lebendigen Glauben im Wege zu stehen. Deswegen aber am Reformationstag eine Erinnerung daran, was Martin Luther und die Reformatoren eigentlich wollten:
I.
Eines der theologische besten Jahre Luthers war sicher 1520; nach der Aufregung 1517 um seine 95 Thesen an der Tür der Schloßkirche zu Wittenberg und den zweijährigen Bemühungen Luthers um eine Reform der Kirche durch Diskussionen erhielt Luther am 15. Juni 1520 gleichsam als Belohnung eine Bannandrohungsbulle aus Rom mit diesem wunderschönen Titel: `Exsurge domine` ( aus Psalm 80, 14), frei übersetzt: „Es erheben sich, Herr, die wilden Säue gegen deinen Weinstock.“
Daraufhin hat Luther – noch ganz um Verständnis beim Papst Leo heischend – seine berühmte Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ geschrieben, ein Jahrhunderttext, der die geistliche Substanz der damaligen Kirchenkrise zu benennen wusste! Luther begründete die Gewissensfreiheit, also diese uneinnehmbare innere Burg eines jeden Menschen gegenüber allen äußerlichen Ansprüchen. Dabei klingt heute der Begriff „Gewissen“ etwas altmodisch, aber das Gewissen bei Luther steht letztlich für die Innenseite eines Menschen, für seine Seele, sein Für-sich-sein. Gewissen steht für das Innenleben eines Menschen, das von außen weder gesehen noch überprüft, weder durchschaut noch durchstöbert werden kann, aller wissenschaftlichen Forschung über Gehirnaktivitäten und Botenstoffen zum Trotz. Luther ging es in seiner Freiheitsschrift um diesen „inwendigen Menschen“, der vom Glauben an Gott erfüllt und von keiner Kirche, keiner Institution, keiner Obrigkeit kontrolliert werden darf. Das Innenleben eines Menschen ist frei und eben so ist sie die ewige Quelle des Aufbruches, der Empörung und des Widerstandes.
II.
Es ist deswegen weder zufällig noch nebensächlich, dass Diktaturen und autoritäre Führungen immer wieder den Versuch mach(t)en, diesen inneren Menschen zu disziplinieren, zu organisieren oder gar zu eliminieren. Der Nationalsozialismus hat es ebenso versucht wie der Stalinismus, die Diktatur der Mullahs ebenso wie das Plattitüdenfernsehen der Konsumwelten. Immer geht es darum, den inneren, inwendigen Menschen zu führen, ihm seine kritischen Fragen zu nehmen, ihn einzulullen und einzuhüllen in das, was erwünscht ist.
Deswegen liebe Gemeinde, halte ich Luthers Freiheitsschrift für eine epochale Leistung! Ich behaupte nicht, dass diese Freiheit in der Reformation gleich umgesetzt auch wurde und zur Befreiung alle Unterdrückten führte. Im Gegenteil: Schon Luther blieb mit seiner Haltung zum Bauernkrieg weit hinter seinen eigenen Einsichten zurück. Es gibt auch eine Versagensgeschichte Luthers, und man wird kaum behaupten können, dass der Protestantismus eine Sperrspitze der Befreiungsbewegungen gewesen ist. Aber zugleich muss man diesen „inwendigen Menschen“ verteidigen gegen das Vorurteil, er sei nur der biedermeierliche, der brave, der gemütliche und obrigkeitshörige Mensch des 19. Jahrhunderts.
Für Luther war die Unterscheidung des äußerlichen und des innerlichen Menschen die Grundbedingung dafür, dass von christlicher Freiheit überhaupt sinnvoll zu sprechen ist. Denn nur so werden Amt und Person, Leistung und Menschenwürde, innere Freiheit trotz äußerer Knechtschaft usw. denkbar. Ohne den inwendigen Menschen gibt es keine innere Quelle der Freiheit und auch keinen säkularen Hoffmann von Fallersleben, der die etwas intellektuellere Fassung der gleichen Überzeugung formulierte: „Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten… kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen, kein Keller verschließen, es bleibet dabei, die Gedankensind frei.“ Wir Protestanten sollten stolz sein auf die Tradition des inwendigen Menschen.
III.
Für Luther ist der innere, der inwendige Mensch der durch das Wort Gottes überhaupt erst entstehende Mensch, während der sündige Mensch der in sich verkrümmte und deswegen in der Äußerlichkeit verloren gehende Mensch ist. Und es gehört zur Tiefe von Luthers Menschenkenntnis, dass er weiß: Der äußerliche Mensch kann den inneren Menschen veräußerlichen! Der inwendige Mensch entsteht und lebt – so Luther – vom Wort Gottes und ohne dieses Wort ist der Mensch in seinen Äußerlichkeiten hoffnungslos gefangen und dauerhaft versklavt. Das Wort Gottes funktioniert dabei wie eine Luftpumpe, die den inwendigen Menschen gleichsam aufpumpt und groß und stark macht, sodass er Luft kriegt und wachsen kann. Aber er verliert sogleich seine Spannkraft, wenn die Luftpumpe abgezogen wird und also Gottes Wort nicht mehr gehört wird. Denn der inwendige Mensch hat kein Ventil zum Festhalten der Luft oder zur Inbesitznahme des Wort Gottes! Deswegen war für Luther allein wichtig, dass das Wort Gottes frei zugänglich bleibt. Und dies ist die Aufgabe jeder Obrigkeit: sie hat dafür zu sorgen, dass das Wort Gottes frei und öffentlich gepredigt werden kann. Welche gesellschaftliche Dynamik diese Forderung der freien Verkündigung damals hatte und noch heute haben kann, erkennt man daran, dass dieses freie Wort so oft verboten wird. Auch hier sage ich: wir können stolz sein auf unsere protestantische Tradition.
IV.
Liebe Gemeinde, ein letzter Gedankenschritt:
Sie mögen schmunzeln über dieses etwas naive Bild von dem Wort Gottes als „Luftpumpe der Seele“, aber als Kind des „milden Luthertums des Nordens“ verstehe ich unter dem „Wort Gottes“ nicht allein und ausschließlich Jesus Christus und die Bibel, sondern all die Bekenntnisse und Einsichten, all die Lieder des Gesangbuches und die Musik von Schein, Schütz und Bach, all die Kunstwerke und Bilder, die sich im Laufe der Jahrhunderte wie eine Corona um das Wort Gottes gelegt haben. Und dieser so reich gestärkte inwendige Menschen hilft mir in den stürmischen, verzweifelten, unübersichtlichen und aufgewühlten Zeiten, die wir gerade erleben, denn er macht mich zu einem etwas nachdenklicheren, etwas behutsamer urteilenden Menschen. Der inwendige Mensch kann es sich leisten, zörgerlicher zu sein und auch mal keine schnelle Meinung zu diesem oder jenem zu haben. Der inwendige Mensch fragt vielleicht einmal mehr als dass er behauptet, er heult vielleicht etwas weniger mit den Wölfen der Mehrheiten, er hält Distanz zu all den „glassklaren Überzeugungen“ und „felsenfesten Einsichten“, die uns überall angeboten werden. Wenn ich diese ganze zerklüftete und verzweifelte Situation in Israel verfolge, ist doch schon allein die Behutsamkeit, mit der man nicht gleich über das eine oder andere urteilt, ein Segen. Wenn man diese unfassbar abgründigen Entscheidungssituationen zwischen Bodenoffensive und Geiselbefreiung, zwischen Rachefeldzug und militärischer Nüchternheit, zwischen purem Terror und missbrauchten Zivilisten, zwischen weltweitem Antisemitismus und israelnahe Staatsräson auf sich wirken lässt, dann hilft mir der inwendigen Mensch, weil ich mir vor Gott und mir selbst eingestehen kann, dass ich es auch nicht besser weiß als jene, die jetzt entscheiden müssen. Manchmal kann ich mir dann eingestehen, dass es wohl gar keine Lösung gibt ohne brutale Gewalt, dass es zur unausrottbaren Schattenseite des äußeren Menschen gehört, dass er nicht ohne Gewalt leben kann, und dass es auch ziemlich wohlfeil ist, im warmen Wohnzimmer zu sitzen und Feuerpausen und Gewaltfreiheit zu fordern. Mal eine Tonlage leiser werden, mal eine Gewichtsklasse tiefer boxen, mal eine Ohnmacht mehr eingestehen, darum geht es. Denn der inwendige Mensch ahnt, dass es in Gottes Welt immer auch einen ungerechten Jammer gibt, der sich einfach nicht vermeiden lässt. Es gibt einen Kummer, dessen Vater der Krieg, dessen Bruder die Demut und deren Schwester die Schuld ist.
Gott schenke uns die Kraft, diese Wahrheit auszuhalten, ohne am inwendigen Menschen zu zweifeln. Amen