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Predigt · 16. Sonntag nach Trinitatis · 24. September 2023 · Pfarrer Michael Hufen

Posted on Sep 24, 2023 in Predigten

16. SONNTAG NACH TRINITATIS

24.9.2023

TEXT: HEBR 10,35-36.39

Liebe Gemeinde

I.

Kraft, Liebe Besonnenheit, Vertrauen, Geduld, Gelassenheit, ja sogar Wunder, die Überwindung des Todes.

Das ist in etwa die Zusammenfassung der für den heutigen Sonntag vorgesehenen Bibeltexte.

Und das ist auch das krasse Gegenprogramm zu dem, was das prägt, was wir als unsere Wirklichkeit beschreiben: Krieg, Vertreibung, Naturkatastrophen, Terror, Angst, Krankheit, Tod.

Von heute aus gesehen sind die Prognosen für die Zukunft düster. Nun könnte ich mich in Spott flüchten und mit Einstein sagen: Prognosen sind immer schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen. Nur bleiben wir mal bei dem, was wir mit unserem Wirklichkeitssinn benennen können: wir nehmen wahr, was ist, kombinieren das mit der sogenannten Erfahrung und ergänzen das noch mit einer etwas pessimistischen Grundhaltung und bekommen das, was man heute beim Blick auf die wirtschaftliche und politische Entwicklung als den perfekten Sturm bezeichnet.

Und vielleicht ist es wirklich egal, in welche Richtung man blickt und welche Themen wir als die gerade vordringlichsten benennen. Krieg in der Ukraine, Migration, Klimawandel, Bildung und auch im Blick auf den Zustand der Kirche wird einem als Realist wenig Optimistisches einfallen.

Aber sind wir denn alle so klare Realisten oder Rationalisten?

Am Mittwoch beim Seniorenfrühstück haben wir über Glück gesprochen. Und selbst über die Gesichter der sonst weniger Optimistischeren in unserer Runde, zog ein Lächeln: Kinder, Familie, ein schöner Ausflug, ein besonderes Bild, Vögel, Blumen, der Sternenhimmel in einer besonders dunklen und wolkenlosen Nacht.

Das es den Wirklichkeitssinn gibt, die klare Beschreibung dessen, was ist, wird wohl niemand bestreiten, aber haben wir nicht auch alle den Möglichkeitssinn. Neben der manchmal ziemlich bitteren Beschreibung auch gewünscht, geträumt oder gehofft zu beschreiben, wie es anders sein könnte, welche Möglichkeit auch und trotz aller Erfahrung in den Dingen liegt.

Der von mir sehr geschätzte Religionspädagoge Rainer Oberthür hat formuliert:

Alle Dinge, die wir sehen, können wir doppelt anschauen: als Tatsache und als Geheimnis.

Für meinen Schülerinnen und Schüler waren Tatsachen klar erkennbar und beschreibbar. Ein Stuhl war ein Stuhl, hatte eine Farbe und bestand aus unterschiedlichen Materialien. unbestreitbare Tatsachen, aber wer auf diesem Stuhl gesessen hat und sitzen wird, wie es diesem Schüler ergangen ist oder was eine andere Schülerin darauf erleben wird? Werden auf diesem Stuhl sitzend gute oder unbefriedigende Zeugnisse entgegengenommen, Liebesbriefe geschrieben oder Dinge gelernt und erlebt, die das ganze Leben der Person beeinflussen. Natürlich ging es im Unterricht nicht um Stühle, sondern um Symbole, um Zeichen, die Bilder, die mehr darstellen, zeigen und vermitteln als nur die Wirklichkeit, die wir allzu gerne als Tatsache beschreiben. Geheimnisse, die ihre Bedeutung und Kraft entfalten, wenn wir das zulassen oder vielleicht noch grundsätzlicher, wenn wir überhaupt damit rechnen, dass es die Möglichkeit gibt, mehr zu entdecken, als auf den ersten Blick offensichtlich ist

Mit der Möglichkeit der Veränderung rechnen. Angesichts der Wirklichkeit nicht daran zweifeln und leider inzwischen auch allzu oft verzweifeln, dass Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit nicht nur leere Phrasen aus dem rhetorischen Baukasten hoffnungsloser Träumer oder skrupelloser Machtmenschen sind.

Gerade als Christen müssten wir doch etwas von diesem Möglichkeitssinn verstehen. Denn es könnte doch auch sein, dass sich unsere Gesellschaft, unsere Wirklichkeit – durch welche Ereignisse auch immer – verändert. Es könnte doch sein, dass viele Menschen spüren, dass die Verhältnisse nicht nur Wackeln oder Verrutschen, sondern zum Tanzen kommen und somit eine ganz neue Sinnsuche beginnt und ein neues Miteinander entsteht.

Dass von Möglichkeiten gesprochen wird, die das Tatsächliche, das aktuell Denkbare übersteigen – und das meine ich nicht dystopisch  – sondern hoffnungsvoll.

Dass etwas entsteht, was, wie beim Seniorenfrühstück, als Glück beschrieben werden kann, etwa was ich nicht selbst machen und herstellen kann, sondern was mir – manchmal ganz unverhofft – geschenkt wird.

(Verlesen des Predigttextes: Hebr 10,35-36.39)

„Darum werft euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat. Geduld aber habt ihr nötig, auf dass ihr den Willen Gottes tut und das Verheißene empfangt.

(Denn »nur noch eine kleine Weile, so wird kommen, der da kommen soll, und wird nicht lange ausbleiben. Mein Gerechter aber wird aus Glauben leben. Wenn er aber zurückweicht, hat meine Seele kein Gefallen an ihm« (Hab 2,3-4)).

Wir aber sind nicht solche, die zurückweichen und verdammt werden, sondern solche, die glauben und die Seele erretten.“

II.

Im Hebräerbrief, der etwa 60/70 Jahre nach Jesu Geburt geschrieben wurde, geht es natürlich in erster Linie um das Vertrauen in die himmlische Seligkeit. Damals erwartete man die baldige Wiederkunft Jesu zur Errichtung der Gottesherrschaft. Deshalb war die Frage, ob man mit dem eigenen Leben vor Gottes Richterstuhl bestehen kann von entscheidender Bedeutung.

Fast 2000 Jahre sind seitdem vergangen. Wie steht es denn mit unserer Geduld und unserem Gottvertrauen?

Im Hebräerbrief steht: Wir aber sind nicht solche, die zurückweichen und verdammt werden.

Stimmt das? Wir weichen nicht?

Heute ist eigentlich Nagelkreuzsonntag? Die Nagelkreuzgemeinschaft von Coventry feiert weltweit nach einer gemeinsamen Liturgie. Sozusagen: Schuldbekenntnis (wie wir es nachher beten können) plus aktuelle Fürbitten und eine Predigt als Impuls für die eigene Auslegung des Bibeltextes.  In diesem Jahr kam die Liturgie erst vor 10 Tagen, ein Fürbittengebet und eine Predigt fehlten ganz. Waren die Verfasserinnen und Verfasser müde geworden? Oder weist nicht Einiges darauf hin, dass die Gemeinschaft von Coventry in deren Zentrum die weltweite Versöhnungsarbeit steht, aktuell nichts sagen kann, sagen will oder noch schlimmer: nichts zu sagen hat?

Sprachunfähigkeit angesichts der wohl größten Eskalation zwischen Weltmächten seit dem 2.Weltkrieg. Sprachunfähigkeit angesichts des auch propagandistisch gewollten tiefen Grabens aus Versöhnungsbedürftigkeit zwischen der Ukraine und Russland, zwischen Ost und West.

Was hat Kirche denn auch beizutragen?

Vielleicht sind wir – was ja einige Prognosen prophezeien  – in 30 Jahren kaum noch sichtbar  –  zumindest hier in diesem Land und in Teilen Europas.

Können wir aber denn nicht auch die sein, die glauben, die hoffen, ja die dadurch die Seelen retten?

Ob nun die Kirche die Institution zur Seelenrettung sein kann, mag gerne bestritten werden, aber ich kann wohl mit Sicherheit sagen, dass, wer die Hoffnung aufgegeben hat, ziemlich sicher seine Seele verliert. In Hoffnung, die über die Wirklichkeit hinaus das Mögliche im Blick hat, kann man zuversichtlicher auf das blicken, was kommt.

Denn dann habe ich ein Ziel, auf das hinzuleben sich lohnt.

Der Schweizer Theologe Emil Brunner (1889-1966) hat es so zusammengefasst: »Ein Christ ist jemand, der aufgrund seiner Hoffnung etwas tut, was derjenige, der diese Hoffnung nicht hat, nicht tut.«

III.

Diese Hoffnung gilt ja nicht allein für die Zukunft der Kirche, sondern dabei handelt es sich eher um eine grundsätzliche Lebenseinstellung.

Und damit auch um Lebensqualität. Aber an dem Beispiel »Zukunft der Kirche« wird diese grundsätzliche Lebenseinstellung vielleicht besonders deutlich.

Kirche wird sich verändern. Nicht nur weil ein alter Kirchenvater gesagt hat: Ecclesia semper reformanda  est – die Kirche ist eine ständig zu reformierende, sondern weil es innere und äußere Gründe gibt, dies zu tun. Die kann man aber tatsächlich gar nicht so klar voneinander trennen, ja ich glaube, die sind so miteinander verwoben, dass jede Reform, die nur beim Inhalt oder nur bei der Struktur ansetzt, scheitern muss.

Strukturveränderungen sind nötig, weil sich die Zahl der Kirchenaustritte in den letzten Jahren beschleunigt hat und wahrscheinlich nicht an Geschwindigkeit nachlassen wird und damit die finanzielle Basis der Kirchenstruktur ganz anders ist.

Nur treten die Menschen aus der Kirche aus, weil es ein Naturgesetz oder eine Modeerscheinung ist? Eher nicht, viele können einfach mit Kirche nichts mehr anfangen. Religiös vielleicht sogar christlich sind sie kaum weniger als vor 30/40 Jahren, aber die Institution erreicht sie nicht. Ich hüte mich vor vorschnellen Erklärungen, behaupte aber, dass der Weg zu den Menschen nur über den konkreten menschlichen Kontakt, die Sichtbarkeit und Verlässlichkeit und ganz sicher auch über die Übersetzung angestaubt wirkender Glaubenssätze – sie erinnern sich: „Christianesisch“ – in die Sprach- und Denkwelt der heutigen Zeit gehen kann.

Es geht doch damals wie heute darum, Menschen zu sensibilisieren für die unsichtbare Dimension des Lebens, also für das, was unsere eigenen Möglichkeiten übersteigt. Dafür steht die lange Tradition des Christentums; dafür steht Gott als Inbegriff dessen, was wir Menschen nicht in der Hand haben. Über unsere Geburt und unseren Tod können wir nicht entscheiden. Aber nicht allein das, sondern wir können auch nicht – sagen wir einmal – die Schwerkraft ein- oder ausschalten. Sie existiert und macht etwas mit uns, auch wenn wir sie nicht sehen.

»Werft euer Vertrauen nicht weg«. Wenn sich die junge Christenheit gegen den schier übermächtigen Römischen Staat behaupten und schließlich sogar durchsetzen konnte, dann wird die reife Christenheit die Untergangsszenarien von heute auch überstehen.

Ja, Geduld werden wir nötig haben – keine Frage.

Aber Vertrauen auch.

Genau dazu sind wir von Gott berufen.

Und mit dem Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit beschenkt!

Amen.

Predigtimpuls: VELKED – Lesepredigt zum 16. So.n.Trin 2023