Predigt · Vorletzte Sonntag des Kirchenjahres · 17. 11. 2024 · Pastor Thies Gundlach · „Ein deutsches Requiem“ von Johannes Brahms
Tagesgebet
Gott,
unsagbar groß ist das Geheimnis deiner Gegenwart,
mit den Zweifler zweifelst du,
mit den Weinenden weinst du,
mit den Traurigen trauerst du,
mit den Einsamen wachst du,
mit den Leidenden leidest Du
mit den Klagenden klagst du
dein Trost will unser Seele Engel werden,
deine Barmherzigkeit unseres Herzens Freund.
Darum bitten wir dich im Namen unseres Herrn und Bruders Jesus, der mit dir und dem
heiligen Geist lebt und regiert von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen
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Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn JC.
Amen
Liebe Gemeinde,
Erinnern Sie noch, wie Sie kleine Kinder, Enkel oder Freunde trösten? Nähe natürlich, Verständnis auch und irgendwie Zukunft – wie in dem alten Vers: „Heile, heile Segen, morgen gibt es Regen, übermorgen Sonnenschein, dann wird alles besser sein.“ Aufgeschlagene Knie, katastrophale Schulergebnisse oder auch weglaufende Partner, aller Trost hat diese Grundform des Trostes: Der Kummer ist nicht zu leugnen und auch nicht wegzuzaubern, aber durch Nähe, Verständnis und Zukunft wachsen Kräfte zu, die den Jammer bestehen lassen.
I.
Diese tröstende Grundstruktur hat auch das Deutsche Requiem von Johannes Brahms, deutsch übrigens wegen der Sprache, ein klassisches Requiem ist natürlich auf Latein verfasst. Brahms hat sein Jahrhundertwerk in einem Schaffensrausch komponiert; 1866 in der Schweiz gestartet und 6 Monaten später fertig, es sollte am Karfreitag 1868 im Bremer Dom uraufgeführt werden. Aber um diese Aufführung rankt eine wunderbare Anekdote, die zugleich ein geistliches Problem anzeigt. Im Kern: Es ist gar nicht drin, was draufsteht! Aber zuerst die Geschichte: Brahms fand in dem Bremer Domorganisten Carl Martin Reinthaler einen Freund und Gönner, der sich für das Werk begeisterte. Allerdings bekam der Organist Ärger mit der Bremer Kirchenobrigkeit, die einwandte, dass dem Werk jeglicher Hinweis auf Jesus Christus und seinem stellvertretenden Leiden und Sterben fehle. „Es fehlt aber für das christliche Bewußtsein der Punkt, um den sich alles dreht, nämlich der Erlösungstod des Herrn“. So ein Kritiker. Brahms reagierte verschnupft und antwortete: „Was den Text betrifft, will ich bekennen, daß ich … mit allem Wissen und Willen Stellen wie z.B. Joh 3, Vers 16 (`Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab`) entbehre“. Kurz: Brahms wollte Christus und sein Tun gar nicht thematisieren, er wollte ein Werk jenseits aller konfessionell-kirchlichen Bindungen schaffen. Aber der Domorganist Reinthaler war nicht dumm und so wurde das Deutsche Requiem am 10. April 1868 im Bremer Dom uraufgeführt mit einer originellen Lösung: „Reinthaler teilte das Requiem, das bis dahin noch ohne den fünften Teil `Ihr habt nun Traurigkeit` auskam, in zwei Teile und schob eine Arie aus Bachs `Matthäuspassion` sowie Arien und Chöre aus Händels `Messias` ein. Dazu kamen noch einige Solowerke für Violine.“
Brahms dürfte über die Lösung und insbesondere über die dann folgende öffentliche Reaktion nicht wirklich begeistert gewesen sein, hoben doch manche Zeitungen insbesondere die Schönheit der Händel-Arie „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“ hervor, Brahms komponierte dann den 5. Satz „Ihr habt nun Traurigkeit“ und in dieser nun vollständigen Fassung wurde das Werk erstmals am 19. Februar 1869 im Leipziger Gewandhaus aufgeführt. Von da aus machte es einen Siegeszug durch die deutschen Lande wie kaum ein anderes Werk von Brahms. Das Requiem sollte der Durchbruch werden, es machte Brahms weltberühmt und zum Superstar, also quasi zu einer Mischung aus Christian Thielemann und Helene Fischer.
II.
Lieber Gemeinde, haben Sie biblische Lieblingsverse? Brahms, der ja im Requiem reformatorisch ausschließlich Bibelverse vertont, hatte offensichtlich welche! Aber ihre Zusammenstellung ist – modern gesagt – tendenziös; dazu in Kurzform derGedankengang seiner Bibelauswahl:
Brahms hat sein Requiem in 7 Schritte aufgeteilt, wobei der 1. Teil den Grundton setzt:„Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.“ (Mth 5), ein Zitat aus den Seligpreisungen der Bergpredigt. Im 2. Satz folgt die Erinnerung an die Endlichkeit des Menschen: „Denn alles Fleisch, es ist wie Gras …“ (nach 1. Petrus 1,24) und wird der Ewigkeit Gottes entgegengesetzt. Der 3. Satz erinnert daran, dass der Mensch sterben muss (Psalm 39, 5f.): „Herr, lehre doch mich, dass ist sterben muss und ich davon muss“ (Ps. 39, 5f); es klingt alles sehr traurig, sodass der 3. Satz zuletzt fragt:
„Nun Herr, wes soll ich mich trösten?“. Der 4. Satz antwortet darauf mit der Weite der Güte Gottes: „Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth“ (nach Ps. 84, 2). Im 5. Satz wird dieser Trost sozusagen mütterlich gewendet, gleichsam als protestantisches „Marienbekenntnis“: Brahms lässt den in die Kreuzigung gehenden Christus gemäß Joh 16 singen: „Ihr habt nun Traurigkeit, aber ich will euch wiedersehen“ und „will euch trösten wie einen eine Mutter trösten“ (Jes 66, 13a). Ist dies gesagt, gesungen und musiziert, kann der bombastische 6. Satz folgen, der das paulinische Geheimnis der Auferstehung und der Verwandlung mit einer jeden Chorsänger strapazierenden Vertonung feiert: „Der Tod ist verschlungen in den Sieg, Tod, wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist dein Sieg.“ (1 Kor 15). Ist dieses Bekenntnis heraus, weiß der letzte, der 7. Satz die Toten in Gottes Hand: „Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben von nun an. Ja, der Geist spricht, dass sie ruhen von ihren Werken“ (Offb 14, 13f).
Liebe Gemeinde, ich hoffe, ich konnte auch jenen, die das Deutsche Requiem gestern nicht gehört haben und es vielleicht auch sonst nicht so gut kennen, den roten Faden aufzeigen: Es geht um Trost des leidenden Menschen, der im Glauben an Gottes Güte mütterlichen Trost erfährt und so alle Angst vor dem endgültig besiegten Tod verlieren kann, denn er weiß: die Tote ruhen aus von ihren Werken.
III.
Beim Vergleich des Brahmschen Requiem mit einem klassischen Requiem wird deutlich, was schon bei seiner Erstaufführung auffiel und was das Evangelium für diesen vorletzten Sonntag im Kirchenjahr erinnert; auch hier nur eine Kurzfassung des Evangeliums: Was ihr getan (oder nicht getan) habt einem dieser Geringsten, dass habt ihr mir auch (nicht) getan. „Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben.“(Mth 25, 46).
Bei Brahms fehlt alles, was mit Gericht nach den Werken, nach Rechenschaft vor Gott, nach dem Buch der Taten und ewiger Strafe klingen könnte. All diese, die klassische Totenmesse dominierenden Themen fehlen. Bei Brahms gibt es keinen Tag des Zorns, keinen Tag des Gerichtes, kein Urteil am Ende des Lebens. „Ein Buch wird aufgeschlagen, treu darin ist eingetragen, jede Schuld aus Erdentagen“, heißt es in der klassischen Totenmesse. Brahms dagegen setzt auf jene lieblichen Wohnungen des Herren Zebaoth, nach denen die Seelen verlangen und sich sehnen. „Die Gerechten Seelen sind in Gottes Hand und keine Qual rühret sie an“, heißt es zuletzt, und wenn man das gesungen hört, kann man sich eigentlich nur wundern, dass Menschen jemals auf den Gedanken gekommen sind, man könne im Blick auf sein Ende auf die Rechtfertigung durch einen anderen angewiesen sein. Und aus der Posaune, die klassisch zum letzten Gericht der Lebenden und der Toten ruft, werden die Posaunen einer triumphalistischen Todesüberwindung. Die Hölle ist bei Brahms zwar nicht abgeschafft, aber sie wird gleichsam übertrompetet. Mit dem fanfarenartigen Spott eines „Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?“ ist alle Angst weggeblasen.
Statt Sorge, Zweifel, Angst eines schuldigen Menschen erklingt hier eine Zuversicht, die so laut daher gesungen kommt, das sich jeder kleine Bezirksteufel die Ohren zuhalten muß. Im klassischen Requiem ringt ein Mensch um ein jenseitiges Heil, ein Heil, das größer als er selbst. Es sehnt sich eine geschundene Kreatur nach einem Frieden, den es selbst nie hat finden können, es erfleht ein Mensch jenen Trost, den weder Vater noch Mutter, weder eigene Leistung noch gelungene Freundschaften schenken können.
Bei einem Vergleich zwischen einem klassischen Requiem und dem „Deutschen Requiem“ von Johannes Brahms kann man auf die Idee kommen, dass sich die beginnenden Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts das Jenseits als Ruhen von der Arbeit bzw. Werken vorstellt, also eher als einen ewigen arbeitsfreien Tag. Und wenn im kriegstüchtig-heldischen Deutschland des 19. Jahrhunderts ein Requiem Erfolg hat, dann liegt das an der Seligpreisung der Leiden und nicht am „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“ eines schuldbewussten Sterbens. Und weil diese existentielle Dimension eines Endgerichtes fehlt, braucht es auch keinen Christus, keine Erlösungstat, keine Stellvertretung, keinen Freispruch. Ein Biograph schreibt deswegen zu Recht: Brahms habe ein „säkularisiertes Requiem (geschrieben), das ja neben der Trauer um die Toten auch die Trauer um den Verlust des Erlösungs- glaubens deutlich enthält.“ Und in diesem Sinne gilt: Es ist gar nicht drin, was draufsteht.
IV.
Letzter Gedanke: Ich bin kein Freund von Endgerichtsvorstellung, von Hölle, Tod und Teufel oder ewiger Strafe und Qual. Schon die Reformation hat das Fegefeuer abgeschafft und die moderne Theologie seit der Aufklärung weiß darum, dass wir über ein Jenseits nur sehr vorsichtig und fragend sprechen können. Brahms Requiem ist darum eine fundamentale Quelle des Trostes für den weinenden, leidenden, klagenden Menschen der Gegenwart: Es geht um all den Jammer, den Kummer, die Hilflosigkeit und Irritation, die wir in unserer Welt erleiden und erzeugen, hervorrufen und ertragen. Brahms Requiem hat keine Vorstellung mehr vom jenseitigen Gericht nach den Werken, ihm ist wie vermutlich den allermeisten heutigen Menschen die Vorstellung ewiger Strafen und unbegrenzter Höllenzeit unverständlich und fremd. Und gerade deswegen stärkt Brahms Requiem den kämpfenden, arbeitenden, schaffenden und zugleich leidenden, weinenden, sterbenden Menschen, also gleichsam den tragischen Menschen der Moderne. Ihm ruft er Trost und Mut und Tapferkeit zu in einer Zeit, die auf der Rückseite allen Fortschrittes eben auch unerhörtes Leiden, ungetröstete Lasten und unfassbar Verluste kennt. Brahms Musik ist Seelsorge des `homo fabers´, Seelsorge des modernen Machermenschen.
Natürlich, liebe Gemeinde, es gibt immer Tage der Verzweiflung, Zeiten der Untröstlichkeit, in der alle Ermutigung, aller Verweis auf die heilenden Zeit, aller Trost vertröstend und also unangemessen ist. Manchmal gibt es keine Worte, keine Musik, keine Geste, die uns trösten kann; und dann gilt es zu schweigen. Aber zugleich, liebe Gemeinde, gestehe ich noch einmal meine Trostbedürftigkeit ein, denn man kann doch mit einiger Sicherheit sagen, dass uns in nächster Zeit der Wind direkt ins Gesicht blasen wird. Ob wir nun an die zunehmenden Klimakatastrophen denken, ob wir an die nächste Administration in den USA denken und an ihren angekündigten Rachefeldzug, ob wir an den siegreichen Populismus allerorten in Europa denken oder an die strauchelnde Wirtschaft, ob wir an das illustre Chaos unter den demokratischen Parteien denken oder an die katastrophalen Kriege unserer Tage, immer kann man sagen: Wir werden uns warm anziehen müssen. Und dann tröstet mich die Musik des Brahmschen Requiems, weil man – wie damals, als wir Kinder waren – wohl weiß, dass Trost kein einziges Problem wegzaubern kann, aber wir dennoch mit dem Herzen, der Seele und dem Verstand hören können: „Selig sind die Leid da tragen, denn sie sollen getröstet werden.“ Amen
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Fürbittgebet
Warum, Gott, gibt es solch einen Kummer?
Warum solch Unglück, hier und dort und überall?
Mütter sollen ihre Kinder nicht begraben müssen, Väter nicht ihre Söhne!
Wo bist du, Gott, in all unserem Jammer?
Bist du da? Redest du mit uns?
Wir brauchen dich, Gott, gerade jetzt, gerade hier!
Denn der Tod ist stumm. Und er macht stumm!
Stille
Lass dich finden von unserer Sehnsucht, Gott,
lass dich aufspüren von unserer Hoffnung,
dass wir dich nicht verlieren aus unserem Herzen,
sondern dein Geist uns tröstet wie einen eine Mütter tröstet.
Und lasse dein Licht leuchten für alle, die in Dein Reich kommen müssen.
Gott, wir bitten dich, erlöse uns von allem Übel,
lass uns tapfer sein, wenn das Böse uns blendet,
wenn es sich verbirgt hinter Erfolg,
wenn es sich tarnt als Notwendigkeit
und wenn es sich versteckt in Ansehen.
Sei Du das Gewissen aller Macht und der Friede in allem Tun,
begleite die Verfolgten, stärke die Bedrängten,
sei mit denen, die auf der Flucht sind,
sei Du ein Hort der Gnade mitten in aller Grausamkeit.
Und Gott, wir bitten dich
für deine Kirche und für diese Gemeinde,
schenke uns weisen Rat und kluge Wege,
neue Ideen und Liebe zum Bewährten.
Segne alle, die hier und überall Dienst tun an deinem Wort.
Gott, weite unsere Seele, damit wir still werden über unsere Schuld
und nicht lamentieren müssen über anderer Leute Fehler.
Schenke uns die Gabe der Wahrheit,
mache uns ehrlich in uns selbst und schenke uns Zeit,
Zeit zur Einsicht, Zeit zur Umkehr und Zeit zum Wachsen –
in deinem Frieden hinein.
Höre unsere ganz eigenen Bitten – Stille – Vaterunser