Predigt · 21. Sonntag nach Trinitatis · 20. 10. 2024 · Pastor Thies Gundlach · Matthäus 5, 38-48
Liebe Gemeinde,
in diesen Tagen über das Feindesliebesgebot Jesu aus der Bergpredigt nachzudenken, ist schon eine echte Herausforderung. Am liebsten hätte ich einen anderen Text genommen! Denn wir haben im GKR gerade intensiv über die Frage des Friedenschaffen im Blick auf Israel und Ukraine diskutiert – durchaus kontrovers. Allerdings waren wir uns alle einig: Gleich welche Position man jeweils einnimmt, alle wollen schnellsten Frieden und niemand sollte mit Schablonen hantieren: nicht die Kriegstreiber gegen die Friedensschalmeien, nicht populistische BSW-Anhänger gegen grün gestrickten Militarismus. Sondern wir alle sehnen den Frieden herbei und sind verzweifelt ob unserer Ohnmacht und der Vielen, die sterben müssen, verstümmelt werden, gefangen gehalten, gequält und traumatisiert werden. Und auch wenn wir uns alle einig waren, wer die jeweils brutalen Aggressoren und terroristischen Anfänger der Kriege sind, waren wir uns uneinig, was das Gebot Jesu „Liebet eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen!“ (Mth 5,44) heute meinen könnte? Reicht der Hinweis, dass Gott „die Sonne aufgehen (lässt) über Gute und Böse und … regnen über Gerechte und Ungerechte!“ (Mth 5,45)? Oder die Aufforderung, so vollkommen zu werden wie „euer himmlischer Vater“ (Mth 5,48)? Und um die Sache etwas dichter an unseren Alltag zu holen: Soll man einem bedrängten jüdischen Jungen auf dem Schulhof wirklich sagen: „Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar!“ (Mth 5, 39)? Oder einer bedrängten Muslima zurufen: Wenn dir jemand „deinen Rock nehmen (will),, dem lass auch den Mantel“ (Mth 5, 40)? Soll man wirklich einer jungen ukrainischen Mutter, die in Butscha so angeschossen wurde, dass sie nicht nur ihr Kind verlor, sondern auch die Fähigkeit, Kinder überhaupt zu bekommen, zurufen: Liebet eure Feinde?
Liebe Gemeinde, die Spannung zwischen unserer Realität aus Krieg, Gewalt und Haß und der jesuanischen Radikalisierung von Vergeltung und Feindesliebe ist gewaltig. Im Grunde kommt man ja schnell auf den Gedanken, dass mit diesen Sätzen kein Staat zu machen sei und auch keine Politik. Und doch gilt zugleich der Satz: „Und wenn ihr nur zu euren Brüdern (und Schwestern) freundlich seid, was tut ihr Besonderes?“ (Mth 5, 47) Muss es nicht doch einen Unterschied machen, dass wir diese Bergpredigt und also diese Gebote von Jesus haben? Muss diese Radikalität nicht doch eine Bedeutung, eine sichtbare Folge für uns Christen zeitigen? Das jedenfalls war eine der Frage, die uns intensiv im GKR beschäftigt haben; wie würden Sie antworten?
I.
Diese überfordernde Radikalität ist natürlich schon immer aufgefallen, auch die Väter und Mütter des Glaubens erkannten diese unerhörte Spannung zwischen Realität und Jesusgebot. Und da wir in aller Regel nicht dümmer werden, wenn wir einen Blick auf die Weisheit der Traditionen werfen, lade ich Sie ein, für einen Moment der alten Lehre vom „gerechten Krieg“ zuzuhören:
Die Tradition seit Augustinus und dem Mittelalter unterscheidet einen gerechten Krieg ad bellum und in bello, also den gerechten Beginn eines Krieges und das gerechten Tun in einem Krieg. Für Kriege ad bellum gilt: allein ein Verteidigungskrieg kann ein gerechter Krieg sein, Angriffskriege sind per se verboten. Einen gerechten Krieg anfangen darf nur ein Staat, also weder eine Söldnertruppe noch eine terroristische Vereinigung. Und jeder angefangene Krieg muss als Kriegsziel die Wiederherstellung des Friedens haben. Eroberungskriege sind ebenso per se verboten wie Rache- oder Zerstörungskriege um ihrer selbst willen. Und ein gerechter Verteidigungskrieg bleibt nur dann gerecht, wenn er in bello – also im Kriegsvollzug – den Schutz der Zivilbevölkerung und die Fairness gegenüber den Gefangenen einhält. Die Verhältnismäßigkeit des kriegerischen Handelns entscheidet über ihre Legitimität.
Liebe Gemeinde, so kurz ich die klassische Lehre referiert habe, klar ist: Kein machtvoller Staat hat sich jemals an diese Regeln und Beschränkungen gehalten, weder früher im 100jährigen Krieg zwischen England und Frankreich noch im 30jährigen Krieg zwischen den Religionsparteien noch im 7jährigen Krieg des großen Fritz gegen Marie Theresia. Immer aber hat man den Angriff als „Vorneverteidigung“ definiert und die Zivilbevölkerung vertrieben oder vernichtet. Das tun alle Großmächte so, die USA ebenso wie Rußland, China ebenso wie Indien. Alle sehen sich als Opfer eines anstehenden Angriffes der anderen, gegen den man sich verteidigen muss nach dem berühmten Grundsatz: „Willst du Frieden, bereite den Krieg vor!“
Und trotz dieser Wirkungslosigkeit der Lehre kann man sagen: Dass wir gegenwärtig sehr kritisch auf das Vorgehen Russlands in der Ukraine schauen und vielfach Verständnis haben für den Verteidigungskrieg der Ukraine, das hat mit diesen Traditionen zu tun, die heute natürlich als Völkerrecht und regelbasierte internationale Ordnung benannt werden. Und dass der Umgang Russlands mit der Zivilbevölkerung empörend ist, hat ebenfalls mit diesen Traditionsbeständen zu tun. Und auch umgekehrt: Dass wir bei aller Grundsolidarität mit Israel und der fassungslosen Empörung über den brutalen Terrorüberfall der Hamas am 7. Oktober letzten Jahres doch zunehmend die Frage haben, ob diese ultrarechte Regierung Israels ihre berechtigte Verteidigung nicht völlig überzieht und eher der Rache frönt als dem Frieden wiederherstellen versucht, hat ebenfalls mit diesen Wertbeständen der Tradition zu tun. In aller Wirkungslosigkeit haben die Sätze Jesus aus der Bergpredigt und ihre Interpretation in der Lehre vom „gerechten Krieg“ ein Bewusstsein von ungerechten Kriegen etabliert, das sich bis heute erhalten hat.
II.
„Und wenn ihr nur zu euren Brüdern (und Schwestern) freundlich seid, was tut ihr Besonderes?“ (Mth 5, 47) Es bleibt die Frage: was macht den Unterschied aus? Die Bergpredigt soll doch eine Bedeutung haben, es muss einen Unterschied machen, dass wir Christen uns auf diesen Text beziehen. Es reicht doch nicht, nach dem Motto vorzugehen:
Ist halt ein etwas überspannter Jesus damals, er hat die Forderungen der Thora etwas zu radikal ausgelegt, das kann für uns nüchternen, aufgeklärten, mitunter zynischen Menschen nicht gelten, es ist doch für diese Welt unbrauchbar. Am besten, wir gehen historisch-kritisch vor und machen die Sätze Jesu aus der damaligen Zeit heraus plausibel – Stichwort Endzeiterwartung – und stellen fest: das ist nicht unsere Situation, muss man also links liegen lassen.
Aber dieses Vorgehen lässt mich auch unzufrieden zurück, deswegen noch einmal die Frage: Welche Relevanz haben die Sätze der Bergpredigt? M.E. bekommen sie einen völlig anderen Klang, wenn wir sie nicht zuerst als ethische Aufforderungen lesen, sondern als Basis existentieller Einsichten:
1. An der Bergpredigt kann man erkennen, dass ich selbst nie und nimmer ausreichend fair, gerecht und nobel durchs Leben gehe. Es mag Menschen geben, die die Bergpredigt leben können – Franz von Assisi vielleicht, Mahatma Gandhi vielleicht, Mutter Theresa vielleicht auch, sicher auch manch stille Helden*innen des Alltages, die wir nicht mehr kennen. Aber ich bin kein Heiliger, in aller Regel sind Heilige auch eher selten, wir leben alle nicht radikal genug, nicht konsequent und glaubwürdig genug, wir machen immer Kompromisse und lassen Gott sehr oft einen guten Mann sein. Wir alle machen mehr oder weniger mit in unserer korrupten Welt, wir alle sind Teil und Mitglied des alltäglichen Unrechtes, wir leben von den Waffen, die wir verkaufen, von der Gleichgültigkeit, die das Klima zerstört, wir sind schuldig im Sinne der Anklage. Deswegen geht es bei der himmlischen Vollkommenheit, die gefordert wird, um die Einsicht: auch ich bin Mitglied der Schuldnerbande.
Und diese Einsicht hilft unerhört, sich nicht über andere Menschen, Meinungen und Moden zu erheben und sich als etwas Besseres zu dünken. Einsicht in meine Schuldverfangenheit macht demütig und korrigiert das hehre Selbstbild, es stärkt die Güte für den Nächsten und das Verständnis für die gebrochenen Linien des Lebens. Die Alten nannten diese innere Einsicht das Sündenbewusstsein!
2. An der Bergpredigt kann man sodann die ebenso grausame wie nüchterne Einsicht gewinnen, dass wir immer schon in einer verrückten, gleichgültigen, zynischen und machtversessenen Welt leben, in der die Starken sich durchsetzen und die Schwachen unter die Räder kommen, in der das Vollkommene verlorengegangen ist und die Heiligen die Ausnahme sind. Von der Vollkommenheit des himmlischen Vaters sind wir unendlich weit entfernt, und das seit Anbeginn. Oder – wie Kirchenvater Augustinus sagt: „Die Menge der Sünde bleibt in jeder Generation etwa immer gleich!“ Diese existentielle Einsicht entlastet nicht von der Aufgabe, Gutes zu tun und dem Nächsten zu helfen, sondern sie bewahrt uns vor der Vorstellung, die himmlische Vollkommenheit selbst herstellen zu müssen. Denn immer, wenn Menschen versuchen, alles Unrecht abzuschaffen und das vollkommene Reich Gottes zu erzwingen, endete dies in einer Katastrophe für alle anderen. Das ist im Islamismus so, das war im Nationalsozialismus so und im Stalinismus auch. Die Alten nannten diese Grenze aller ethische Verbesserung oder Vervollkommnung Entfremdung oder Verlorenheit oder die „Krankheit zum Tode“ oder eben auch: Erbsünde. Das ist keine Entschuldigung, sondern eine tiefe Einsicht.
3. Und zuletzt: An der Bergpredigt kann man lernen, dass eine ethische Umsetzung der Forderungen eine hohe Leidensbereitschaft voraussetzt. Es geht ja nicht nur um die andere Backe, die man hinhält, oder die nächste Meile, die man mitgeht, sondern um die Bereitschaft, Leid und Geschrei und Jammer in Kauf zu nehmen. Verzicht und Demütigung, Verzweiflung und Ohnmacht sind die Geschwister der Feindesliebe. Wer wissen will, was konsequente Feindesliebe bedeutet, muss sich die Passionsgeschichte erzählen lassen.
Ich gestehe, dass ich allerhöchsten Respekt habe vor Menschen, die diesen Weg einschlagen können, die ihn auch durchhalten, wie z.B. die reformatorischen Friedenskirchen der Quäker und Mennoniten oder die Amis-People. Aber ich gestehe zugleich: Spätestens bei meinen Kinder,n meiner Partnerin, meiner Familie, ja um ehrlich zu bleiben, auch bei mir selbst hört der Spaß auf. Ich kann Unrecht mir gegenüber nur schwer ertragen und nur mein Alter schützt mich mitunter vor zu heftigen Reaktionen. Aber Unrecht und Gewalt, Demütigung und Kränkung auszuhalten im Blick auf meinen Nächsten fällt mir schwer und ich verstehe jeden, der sich dagegen wehrt und nicht den Weg Christi zu gehen vermag.
Liebe Gemeinde, diese Einsichten in der Auseinandersetzung mit der Bergpredigt macht mich etwas bescheiden im Blick auf die Forderung nach „Frieden jetzt“ und „Verhandlungen sofort“. Denn ich gestehe jedem Menschen und auch jedem Volk zu, sich bis zur Wiederkunft Christi und bis zum Anbruch des Reiches Gottes gegen Unrecht zu verteidigen – möglichst regelbasiert, aber in einer gefallenen Welt eben auch mittels eines gerechten Krieges ad bellum und in bello. Amen