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Predigt · 13. Sonntag nach Trinitatis · 25. 8. 2024 · Pastor Thies Gundlach · 3.Mose 19

Posted on Aug 28, 2024 in Nachrichten, Predigten

Gnade sei mit uns und Friede von Gott und unserem Herrn Jesus Christus.

Amen

Fritzchen kommt aus der Kirche und geht zu seinem Vater in die Kneipe neben der Kirche: „Na, Fritzchen, worüber hat denn der Pfarrer heute gesprochen?“

„Über die Sünde!“, sagt Fritzchen.

„Und was hat er gesagt?“

„Er war dagegen!“

Vermutlich kannten Sie den alle, aber dieser Uraltwitz fiel mir als erstes ein, als ich den Predigttext für den heutigen 13. Sonntag n. Trinitatis las. Aus dem 3. Buch Mose – übrigens neu hinzugefügt zu den Texten aus der Bibel, die überhaupt bedacht und bepredigt werden – eine einzige moralische Ermahnung: Tue dies nicht, mache jenes nicht, lass dies sein, halte Abstand von jenem – man kommt sich vor wie ein Kind, dem Mutter oder Vater die Weisungen für den Schulalltag mitgeben. Wobei im Text die Rolle der Eltern Gott einnimmt, denn immer heißt es: ich bin der HERR!

Natürlich: es sind alles richtige und wichtige Mahnungen, keine Frage: „Du sollst dem Tauben nicht fluchen und sollst vor dem Blinden kein Hindernis legen.“ Richtig! „Du sollst den Geringen nicht vorziehen, aber auch den Großen nicht bevorzugen…“. Zustimmung! „Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen, sondern du sollst deinen Nächsten zurechtweisen, damit du nicht seinetwegen Schuld auf dich lädst.“ Naja, kann man so machen! Und als Ziel- und Höhepunkt: „Der Fremdling soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch; und du sollst ihn lieben wie dich selbst, denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der Herr, euer Gott!“ Puh, das ist nicht eben wenig verlangt!

Gerade in diesen Tagen nach dem entsetzlichen Attentat in Solingen. Denn es ist diese Willkür, die unkalkulierbare Zufälligkeit, die einen mindestens so verunsichert wie die Tat selbst. Was haben diese drei Opfer dem Mann nur getan? In jedem Krimi, jedem Tatort gibt es immer einen Grund, eine Rationalität des Bösen, ein irgendwann nachvollziehbares Motiv, das die Tat zwar nicht legitimiert, aber doch verstehbar macht: Eifersucht, Rache, Geldgier usw. Aber in Solingen und Mannheim und überall: die reine Willkür der Tat. Das macht es so schwer, nicht selbst wiederum in Willkür zu verfallen: die Asylbewerber, die Flüchtlinge, die illegalen Einwanderer, die Fremdlinge, das sind doch alles Messerstecher und IS-Täter.

Ich gestehe: Manchmal muss ich mich selbst ermahnen, fair zu bleiben, nicht pauschal zu werden, nicht generalistisch zu urteilen, nicht in die populistische Falle zu geraten.

Sondern rechtstaatlich diesen einen Täter, diesen einen 26-Jährigen und sein Umfeld zu verfolgen, Beweise zu sammeln und ihn dann irgendwann zu verurteilen. Und meinetwegen auch Messerverbote überall – auch wenn ich nicht glaube, dass das was bringt.  

Aber ich gestehe auch: die biblischen Mahnungen aus dem Predigttext sind zwar alle irgendwie richtige Mahnungen, alles wichtige Hinweise, wenn auch etwas altmodisch, sie sind ja auch 2500 Jahre alt. Aber gerade weil sie so überaus richtig sind, löst dieser Predigttext Widerstand in mir aus. Er wirkt irgendwie hilflos, unterkomplex, schlicht und eben fast ein wenig kindlich.

Und ich muss gestehen: ich mag diese Texte mit den braven Ermahnungen und moralischen Hinweisen nicht – Bibel hin oder her. Ich mag auch unsere evangelische Kirche nicht so gern, wenn sie wieder mal mit irgendwelchen ethischen Stellungnahmen auf sich aufmerksam zu machen versucht. Und es stört mich, wenn wir als Protestanten wie ein moralischer Leuchtturm irgendwelche vermeintlich erleuchtete Moralhinweise geben und selbst – wie alle Leuchttürme – im Schatten liegen bleiben. Ich mag es nicht, wenn wir besserwisserisch auf die Welt zugehen und immer zu sagen versuchen, was denn gerade gut zu tun sei und was der Mensch bitte eher zu lassen habe.
Denn: In meinen Augen verfehlt eine ständig Moral ausspuckende Kirche ihren Auftrag. Aufgabe der Kirche ist, Gott in Erinnerung zu halten, aber er geht leicht hinter der Moral verloren, weil Moral immer eine Frage des Menschen und seines Verhaltens ist, nicht aber eine Frage des Glaubens des Menschen an Gott.

1.Diese Moralisierung des Glaubens beginnt auf höchstem Niveau mit dem gerade jüngst zu seinem 300.sten Geburtstag gefeierten Immanuel Kant und seiner Aufklärung. „Sich seines eigenen Verstandes ohne Anleitung eines Dritten zu bedienen“, führte in Glaubensdingen dazu, dass Gott „ein Postulat der praktischen Vernunft“ wurde, der seinen Ort in der Welt in der Ethik zugewiesen bekam. Da die reine, kritische Vernunft nachweisen konnte, dass der Mensch Gott nie rational erkennen kann, teilte Kant Gott einen Platz zu als Garant einer ethischen Gerechtigkeit. Weil tugendhaftes, also dem kategorischen Imperativ folgendes Handeln in dieser Welt offensichtlich nicht mit einer angemessenen Anerkennung einhergeht, und der Tugendhafte oft im Unglück bleibt, deswegen soll und muss es einen Ausgleich im Jenseits geben.

Dafür steht laut Kant der liebe Gott ein, er ist also ein „Postulat der praktischen Vernunft“, also eine Forderung der ethischen Gerechtigkeit. Gott soll laut Kant dafür sorgen, dass das moralische Gebotene auch zu der entsprechenden Belohnung spätestens im Jenseits führt. Ob Gott Lust hatte auf diese Rolle? Ob Gott sich wiederfand bei dieser Aufgabe? Erst die Romantik – also auch der von uns Anfang des Jahres so intensiv bedachte C D Friedrich – hat diese Reduktion Gottes auf einen moralische Garant in Frage gestellt und Gott wieder dem Staunen und der Hoffnung zugeordnet. Insofern ist mein Widerstand gegen eine moralische überbordende Kirche ein romantischer Impuls.

2. Eine andere Quelle meines inneren Widerstandes gegen eine moralisch auftrumpfende Kirche ist die Fallhöhe, in die sie immer wieder geraten ist und gerät. Wenn man sich nur einmal ganz grob die Geschichte der moralischen Botschaften unserer Kirche anschaut, dann muss man sich schon auch schämen: Im Kaiserreich staatstreu – nicht alle, aber die meisten! In der Weimarer Republik antidemokratisch – nicht alle, aber die meisten! In der NS-Zeit antisemitisch und großspurig – nicht alle, aber die meisten! Während der Adenauerzeit im Westen moralisch rückwärtsgewandt – gegen Homosexualität, Frauenemanzipation und Sex außerhalb der Ehe – nicht alle, aber die meisten! Wer nüchtern zurückschaut, muss feststellen: Wir haben als Kirche unsere steilen ethischen Positionen immer eher als Letzte geräumt. Und zugleich wird die Fallhöhe sehr hoch, weil doch der alte Spruch gilt: „Wer immer eine moralische Bugwelle vor sich herschiebt, der wird irgendwann selbst naß.“ Siehe sexualisierte Gewalt in unserer Kirche! Wir sind da weder besser noch schlechter als andere Institutionen, aber natürlich sind die Erwartungen an die Kirche ungleich höher – und zu Recht. Deswegen wird mir manchmal etwas schummerich, wenn wir heute wieder mit voller Überzeugung wissen, wie jetzt Frieden herzustellen sei, was mit Israel und Gaza zu geschehen habe, wie die Stammzellenforschung weiterzugehen habe und was beim assistierten Suizid das Richtige sei. Es geht nicht darum, zu allen diesen Fragen nichts zu sagen, aber m.E. sollten wir viel behutsamer, viel nachdenklicher, viel fragender, viel suchender auftreten. Denn schlichte Antworten auf komplexe Fragen sind das Vorrecht der Populisten!

3. Zuletzt aber: Viele wollen Moral von der Kirche, aber wozu ist sie wirklich da? Was ist ihre Kernaufgabe? Ihr Markenkern? Was ist ihr „unit selling point“, also das Besondere, das Einzigartige, das Spezielle, was nur sie anzubieten hat?

Im Kern lautet die Antwort natürlich seit Jahrhunderten: Gott! Dieses fremd-nahe Wesen, diese fern-vertraute Dimension, die uns loben und danken, staunen und lachen lässt, weil sie unser Leben reich und unseren Tod vielleicht erträglicher macht. Gott und die Seele ist das eine, das zentrale Thema unserer Kirche, unserer Verkündigung, unserer Lieder und Gebete. Gott und die Seele liegen zuhauf, sagt Martin Luther. Sie liegen auf einem Haufen – und wenn das eine verloren geht, geht auch das  andere verloren. Und dass unsere Welt weithin seelenlos geworden ist, dass Angst und Verzweiflung ebenso wie Neid und Haß die Gewinner der säkularen Gesellschaften sind, wird man kaum bestreiten wollen. Die große Politik dreht zunehmend frei und streitet, die Konfliktparteien versuchen, ihr „Gesicht zu bewahren“ und türmen so Vergeltung auf Vergeltung. Menschen werden immer lauter, immer kreischiger, immer sturer, immer autistischer, es geht die normale Lautstärke verloren, als seien die Hörgeräte für Zwischentöne ausgeschaltet. Die Seelen werden aufgescheucht, denn unterhalb vom Skandal gibt es keine Beachtung. Die Erschöpfung der Seelen nimmt zu und unsere Kirche verstärken dies durch ständige Ermahnungen.

Ich bin, liebe Gemeinde, davon zutiefst überzeugt, dass es letztlich bei der Kernaufgabe der Kirche in unserer Zeit nicht um Moral geht, sondern um Trost! Um Mut und Unverzagtheit! Denn die Wurzel unserer unruhigen Welt ist die Angst, nicht die Bosheit. Und Angst braucht zuerst Trost und Mut und Selbstbewußtsein, nicht aber Moral und Ermahnung. Denn „Angst essen Seele auf“ wie ein Film von Rainer Werner Fassbinden von 1974 hieß. Und diese Entängstigung mit Gebeten, Liedern und Musik, mit Gemeinschaft und Seelsorge Raum zu verschaffen, das ist kirchlicher Kernauftrag. Wir wollen Gelassenheit säen und Zuversicht ernten, wir wollen Ermutigungen verschenken angesichts der vielen Angestrengtheiten und Herausforderungen und geistigen Widerstand organisieren gegen Panik und Skandalisierung.

Und ich glaube wohl, dass selbst eine kleiner werdende Schar von Glaubenden diese Tonlage, die geistige Haltung der Ermutigung und des Selbstbewußtseins in eine viel zu aufgeregte Welt eintragen kann, allein weil sie weiß, dass nicht allein ist mit dieser Aufgabe. „Hope is making a comeback“, sagte diese wunderbare Frau Michelle Obama. Das können wir nur hoffen, glauben und verstärken mit vielen anderen zusammen. Gott helfe uns und allen auf der Welt dabei. Amen