Predigt · 4. Sonntag nach Trinitatis · 23. 6. 2024 · Pfarrer Michael Hufen · 1. Samuel 24
Liebe Gemeinde,
„Mir ist Erbarmung widerfahren“
Ein Lied für jeden Tag, ja ein Bekenntnislied: „Mir ist Erbarmung widerfahren“ – als ich mein Herz noch vor Gott verschlossen habe, als ich auf meinen eigenen Wegen unterwegs war, als ich mich selbst verloren hatte, als ich vielleicht gerade nur ein Gefühl davon hatte, dass mir etwas fehlt, dass ich am Eigentlichen vorbei lebe, dass ich Maximen und Gesetzen folge, die mich von mir und den Menschen, ja von Gott entfremden – da traf mich Gottes Wort, da hörte ich: Gott liebt mich, da fand ich Jesus, er war bei mir – er ganz allein -, er tröstet mich und vergab mir meine Sünden und rechnete mir das Böse nicht zu. „Mir ist Erbarmung widerfahren“
Als ich ihm feind war, handelt er an mir wie ein Freund. Ich tat Böses und Gott tut mir Gutes. Er sucht mich, dafür war ihm nichts zu schwer, ja er litt und starb für mich. Ich kann es zwar nicht fassen, aber sagen und singen „Mir ist Erbarmung widerfahren“.
Liebe Gemeinde, wir haben als Predigttext einen längeren Text aus dem 1.Buch Samuel Kapitel 24
LESEN
David und Saul in einer Höhle bei En Gedi am Toten Meer. Stellen sie sich die Situation einmal vor: da sitzt der für sie gefährlichste Mensch vor ihnen, wehrlos – er hatte seine Füße bedeckt, wie es im Text heißt, was nichts anderes bedeutet, als dass er sich hingehockt hat, seine Hosen runtergelassen hat, um sich zu erleichtern. Da sitzt er nun, der beschlossen hat euch zu töten, der seine besten Männer versammelt hat, um euch zu jagen, weil ihr ihm gefährlich geworden seid, weil er eifersüchtig ist, auf eure Jugend, euer Talent, eure Beliebtheit bei den eigenen Kindern. Der Mensch der euch nicht nur Böses will, sondern euch gänzlich vernichten möchte, ist durch einen glücklichen Umstand in eure Hand gegeben. Gerade noch auf der Flucht und auf einmal hat sich die Situation umgekehrt. Und deine Freunde sagen „Tu, was gut ist in deinen Augen!“. Warum ihn nicht einfach töten, alle Sorgen mit einem Schnitt, einem beherzten Stich oder kräftigen Schlag loswerden, den Feind nicht nur ruinieren, sondern vernichten, ein für alle Mal!
Ein für alle Mal?
Da stehen noch die 3000 Bewaffneten vor der Höhle, wenn Saul nicht wieder herauskommt, werden sie ihn suchen ….
Also doch eine strategische Überlegung, Gewalt und Gegengewalt, Taktik und Kriegshandwerk als bestimmende Ratgeber im Miteinander-Umgehen der Menschen?
David schneidet ein Stück Mantel ab, ja er schneidet sich eine Scheibe ab, eine Scheibe von der Königswürde, die dieser Mantel ausdrückt. Die Königswürde, die in Israel göttlichen Ursprungs ist – der Prophet Samuel hat Saul zwar auf Wunsch des Volkes zum König gemacht – trotz seiner eindringlichen Warnungen – gesucht, gefunden und ausgewählt hat er ihn aber mit Gottes Hilfe. Der König ist eine Gesalbter Gottes.
So sind Davids Hände zum Tyrannenmord gebunden aber frei zu einer anderen wagemutigen Tat mit großer Wirkung.
Was für ein großes Stück hat er sich da abgeschnitten, dieses kleine Stofffitzelchen ist sozusagen ein MASTERPIECE – ein Meisterstück: nicht nur großmütig pazifistisch, sondern obwohl pochenden Herzens, klug kalkuliert: alle werden sagen, er hat dem König nicht das Leben, sondern nur den Mantelzipfel genommen, damit aber der Königsmacht des Trägers einen bleibenden Schaden zugefügt, sie nachhaltig erschüttert.
Das Gute hat über das Böse, das David nicht begangen hat, gesiegt.
„Du bist gerechter als ich“ kann Saul nur noch rufen.
Liebe Gemeinde
Ich kann es nicht fassen, nicht begreifen.
Natürlich kann ich ganz viele Motive dieser Geschichte von David und Saul interpretieren und damit auch die gelungene „Entfeindung“ irgendwie relativieren. Natürlich ist David nicht der friedliebende nur strahlende neue König, sondern eine durch und durch zwiespältige Persönlichkeit. Aber bleibt nicht doch als Kern der Geschichte stehen, dass ein anderes Verhalten möglich ist, als Gewalt mit Gewalt zu beantworten, dass Gott der Richter ist und bleibt, der nicht Böses mit Bösem vergilt?
Und wir haben heute noch mehr gehört und JA, in diesen kriegerischen Zeiten geschenkt bekommen: Paulus schreibt an die Gemeinde in Rom: Haltet euch nicht selbst für klug. Bildet euch nichts auf eure Klugheit ein. Verharrt nicht in eurem falschen Freund/Feind Denken. Hört endlich auf mit euren Kategorisierungen von Böse und Gut und schaut stattdessen auf Christus. Da könnt ihr sehen, wie ihr miteinander umgehen sollt. Haltet euch nicht selbst für klug, sondern schaut auf Gott, wie er den Weg zu euch, zu seinen Feinden gegangen ist. Glaubt nicht, selbst zu wissen, wie man mit Menschen, auch wenn sie Feinde sind, umgeht, sonst vernichtet ihr euch gegenseitig.
Geht den Weg Jesu, der selbst in der Bibel „töricht“ genannt wird, den Weg der Liebe Gottes zu seinen Feinden, der Liebe, die er ihnen erweist bis zum Kreuz.
Die Klugheit besteht nach Paulus darin, die Liebe Gottes zu erkennen – und zwar nicht in seltsamen frommen Übungen sondern allein im Blick aufs Kreuz.
Wenn wir mindestens den Splitter im eigenen Auge fühlen, sollte uns klar werden, dass es keinen Grund gibt, davon auszugehen, dass gerade wir die Lieblingskinder Gottes sind, sondern dass Gottes Liebe, wenn sie uns gilt auch unseren Feinden gilt. Auch der von mir als solcher identifizierte Böse, ist von Gott geliebt. All zu leicht vergessen wir, daß uns Erbarmung widerfahren ist ohne Verdienst und Würdigkeit. Und dass wir daran denken sollen, dass Gott auch für meinen Feind ans Kreuz ging und ihn liebt wie mich.
Das ist schwer.
Liebe Gemeinde
„Mir ist Erbarmung widerfahren“ heißt auch, ich habe den schweren Weg zu mir selbst eingeschlagen. Ich habe entdeckt, was in mir an Entfremdung, an Gestörten, Falschen ist – das, was mich eigentlich von mir und von Gott trennt. Wie viel leichter ist es doch da, den vermeintlich Bösen zu bekämpfen.
Die Identifikation von Bösen in Staat und Gesellschaft ist allgegenwärtig. Mit der Haltung moralischer Überlegenheit wird von allen Seiten auf den jeweils identifizierten Gegner eingeschlagen. Angesichts der vielfältigen Verunsicherungen und Bedrohungen, denen der moderne Mensch ausgesetzt ist, ist dies aber gerade kein Weg zum Frieden nach innen und außen. Stattdessen werden Spaltungen vertieft und es gibt eine deutliche Zunahme an Feindseligkeiten, Denunziationen und Verfolgung Andersdenkender.
„Habt mit allen Menschen Frieden“ – Paulus meint das ohne Ausnahme. Nicht nur mit meinesgleichen und denen, die so denken und sind wie ich. Jesus starb für alle – auch für die, die ihn hassen, die wir so gerne Sünder nennen.
Natürlich zieht es unser Herz immer auf die Seite der Gerechten – aber Jesus ging auch gerade mitten unter seine Feinde und betete: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.
Soviel uns möglich ist, sollen wir tun und das Wort vom „Frieden“ nicht verschweigen.
Lasst uns den Frieden, den Gott mit uns, mit allen Menschen gemacht hat bezeugen und nicht schweigen, wenn von Großmächten, deren Führer sich gerne beim Kirchgang filmen lassen, Hunderttausende in völkerrechtswidrigen Kriegen getötet werden.
Wo ist denn da der Balken und wo der Splitter?
Wenn deinen Feind hungert, dann speise ihn! Und nimm ihm nicht unter dem Mantel moralischer Überlegenheit oder mit den Zauberwörtern „Gerechtigkeit“, „Menschenrecht“ und „Demokratisierung“, das, was ihm zusteht.
Als Christen und Kirche schweigen wir seit Jahren zu den großen Skandalen unserer Welt, die sehr oft die direkte Folge unserer Art zu leben und der damit verbunden Ansprüche sind. Stattdessen streben wir nach Anerkennung in der Öffentlichkeit, der Kultur, der Wissenschaft oder der weltlichen Macht und übernehmen deren Themen und Redefiguren.
Nur so wird Christsein, wird Kirche in diesem Land irrelevant. In den letzten Jahren sind jeweils ca. eine halbe Millionen Menschen aus den beiden großen Kirchen ausgetreten und es scheint so zu sein, als ob dieser Trend sich fortsetzt. Nur noch 20 Prozent der Deutschen halten die Kirche für gesellschaftlich relevant. Dem Kirchenaustritt geht meistens ein längerer Entfremdungsprozess voraus. Immer mehr Menschen fragen sich, was sie in einer Kirche sollen, warum sie Kirchensteuer zahlen sollen, wenn deren öffentliche Wirksamkeit kaum noch vom allseits präsenten Mainstream zu unterscheiden ist, wenn sie in der Kirche viel von allem Möglichen aber wenig vom spezifisch Christlichen finden.
Kirche als Gemeinschaft der Christen sollte doch gerade in Zeiten der gesellschaftlichen Krise der Ort sein, an dem man sich begegnen kann. Ohne Vorurteile und vorgefertigte Zuschreibungen. Wo aus der erfahrenen Liebe Gottes heraus der Mut spürbar ist, die Welt tatsächlich zu einem guten Ort für alle Menschen zu machen. Ein Ort, an dem Menschen einen sicheren Grund für ihr Leben finden und zu sich selbst kommen können.
„Mir ist Erbarmung widerfahren“
Amen