Kurzansprache · Andacht zur Lichterkette · 27. Januar 2024 · Pfarrer Michael Hufen
Können wir die Wahrheit aushalten?
Können wir die Wahrheit aushalten und wollen wir sie überhaupt noch hören?
Und wenn ja, welche Wahrheit?
Die Wahrheit, dass der 27. Januar, der Gedenktag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Soldaten der Roten Armee im Jahr 1945 ursprünglich aufs Engste mit dem Begriffen Holocaust und Shoa verbunden war – also den Wörtern, die Menschen gefunden haben, um der Ermordung von etwa 6 Millionen Jüdinnen und Juden durch die Deutschen, während der Vernichtungsfeldzüge des 2.Weltkriegs zu gedenken und zu beschreiben.
…, dass aber Erinnerung und Gedächtnis für alle Opfer deutscher Rasseideologie und deutschen Völkermords möglich sein muss und möglich ist.
Unsere Herzen und Sinne sind groß und weit und können das – wollen wir das auch heute und zu allen Zeiten?
… uns auch an die etwa 25 Millionen Opfer des vom ersten Tage als Vernichtungskrieg geführten Feldzuges gegen die Völker der Sowjetunion zu erinnern. Heute besonders an die etwa 1 Million Opfer der deutschen Blockade von Leningrad, die heute vor 80 Jahren zu Ende ging.
An die entrechteten, verfolgten und ermordeten Sinti und Roma, Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Widerständler, die aus christlicher und humanistischer Überzeugung handelten, Menschen, die in den von den Deutschen eroberten Gebieten Europas Opfer der mörderischen Kriegsmaschinerie, rassistischer Pogrome oder der Ideologie der Unterscheidung von lebenswerten und lebensunwerten Leben wurden.
Können wir uns auch der Wahrheit stellen über die Ursachen und die Täter?
„Nie wieder ist jetzt“ hallt es durch die Straßen und über die Plätze der Republik und tönt es von den Rednerpulten und Kanzeln.
„Ihr könnt mit der Wahrheit doch gar nicht umgehen“ – haben viele der Überlebenden gesagt. Und es ist nicht nur die Wahrheit über das Grauen der Lager, die Monstrosität der Verbrechen, die atemberaubende Brutalität der Täter.
Es ist auch die Wahrheit über die Täter, die sich in diese unfassbare Brutalität geflüchtet und hineinziehen ließen, weil sie die tiefen Brüche ihrer Zeit, ihrer Gesellschaft nicht akzeptieren konnten und sich der mörderischen Ideologie hingaben, dass die Vertreibung und Ermordung von Menschen anderer Herkunft, Sprache, Glauben, politischer Überzeugung und sexueller Orientierung einen stilisierten harmonischen sozialen Körper wiederherstellen würden.
Sie flüchteten sich nicht nur in eine herbeifantasierte bessere Welt, weil die Realität so war, wie sie war. Sie flüchteten sich auch in eine brutale Realität, die die Grenzen des Menschlichen und Mitmenschlichen weit hinter sich ließen, weil sie die Wahrheit über die Vergeblichkeit ihrer Fantasien nicht aushalten konnten.*
Mit der Wahrheit leben können – ungeteilte Erinnerung zulassen – über Ursachen nachdenken und dabei bei uns anfangen – den Mitmenschen im Blick haben und sich an Gedanken orientieren, die tatsächlich ein Leben in Frieden und Freiheit für alle Menschen möglich machen:
Oder um es mit der Jahreslosung für dieses Jahr zu sagen: „Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe.“
- ich folge hier einem Gedanken von Slavoj Zisek