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Predigt · 2. Sonntag nach Epiphanias · 14. Januar 2024 · Pastor Thies Gundlach

Posted on Jan. 14, 2024 in Predigten

Liebe Gemeinde,

es gibt eine wunderbare kleine Anekdote aus meiner Studienzeit: Ein/e Professor*in der Theologie wird von Jesus selbst gefragt, wer er sei. Und der/die antwortet: Du bist das Sein-Selbst, das Ewige in allem Unbestimmten, der Grund und Abgrund des Universums, das Zugleich von Immanenz und Transzendenz, das Jenseits im Diesseits, der Omega-Punkt im Sein-Sollen usw.

Und Jesus antwortete: Wie bitte?

So etwa geht es mir bei dem für den 2. Sonntag nach Epiphanias vorgeschriebenen Predigttext aus dem Hebräerbrief; ich halte ihn für über-komplex:

12Darum stärkt die müden Hände und die wankenden Knie und tut sichere Schritte mit euren Füßen, dass nicht jemand strauchle wie ein Lahmer, sondern vielmehr gesund werde. 14Jagt dem Frieden nach mit jedermann und der Heiligung, ohne die niemand den Herrn sehen wird, 15und seht darauf, dass nicht jemand Gottes Gnade versäume; dass nicht etwa eine bittere Wurzel aufwachse und Unfrieden anrichte und viele durch sie verunreinigt werden; 16dass nicht jemand sei ein Hurer oder Gottloser wie Esau, der um der einen Speise willen sein Erstgeburtsrecht verkaufte. 17Ihr wisst ja, dass er hernach, als er den Segen ererben wollte, verworfen wurde, denn er fand keinen Raum zur Buße, obwohl er sie mit Tränen suchte.

18Denn ihr seid nicht zu etwas gekommen, das man anrühren konnte und das mit Feuer brannte, nicht zu Dunkelheit und Finsternis und Ungewitter …; sondern ihr seid gekommen zu dem Berg Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, und zu den vielen tausend Engeln und zur Festversammlung 23und zu der Gemeinde der Erstgeborenen, die im Himmel aufgeschrieben sind, und zu Gott, dem Richter über alle, und zu den Geistern der vollendeten Gerechten 24und zu dem Mittler des neuen Bundes, Jesus, und zu dem Blut der Besprengung, das besser redet als Abels Blut.

Seht zu, dass ihr den nicht abweist, der da redet.“

Möchte jemand von Ihnen vielleicht in eigenen Worten den Inhalt widergeben?

Wenn Sie sich dies nicht zutrauen sollten, dann hat das nichts mit der PISA-Krise zu tun, sondern mit einem hinreichend überkomplexen Text.

Nach stundenlanger Vorbereitung kann ich Ihnen den Text so widergeben: Die Gemeinde, an die der Hebräerbrief geschrieben wurde – genau kennt sie niemand – war einerseits zerstritten und andererseits erschöpft: der Weg des Glaubens zu Jesus Christus wurde immer lang und länger – entgegen den ersten Erwartungen, dass Christus alsbald in Herrlichkeit wiederkehren würde. Dazu kamen brutale Verfolgungen durch den römische Kaiser Domitian, sodass diese Zeit der sog. Parusieverzögerung die erste echte Krise der Christenheit war. Dabei meint „Parusie“ das Wiederkommen Christi zum Weltgericht und seine Verzögerung zieht sich bis heute hin, nur dass wir schon lange nicht mehr die damalige Erwartung haben, dass Christus alsbald wiederkommt. Der Autor des Hebräerbrief aber sah mit Sorge, dass die Gemeinden kleiner wurden, Christen vom Glauben abfielen und/oder sich anderen Angeboten auf dem religiösen Markt zuwandten. Denn das ist ja immer so: Wenn eine Religion den Mund zu voll nimmt und etwas Falsches verheißt, dann ist die Enttäuschung sozusagen mit eingepreist.

Der Hebräerbrief ruft dagegen zur Tapferkeit und Treue auf, er schreibt an gegen den Verlust des Glaubens mit dem Hinweis, dass das Beste ja noch komme: Nicht wie damals in Israel eine Offenbarung Gottes am Berg Sinai mit Feuer und Rauch mitten in der Nacht, sondern verheißen ist die Stadt Gottes, das himmlische Jerusalem, in der schon tausende Engel zusammen mit den Erstgeborenen des Glaubens (also Abraham, Issak und Jakob, Elia und Elisa usw.) feiern. Die Verheißung des himmlischen Jerusalems soll die müden Hände und wankenden Knie wieder straff und stark machen, vom heilvollen Ende her sollen die Mühen der Ebene bewältigbar werden. Es kommt darauf an, jetzt nicht zu erlahmen, sondern heilig zu bleiben und alle böse Wurzeln, allen toxischen Streit, alle unfriedlichen Verwerfungen zu vermeiden. Der Gedanke des Textes in lapidarer Kurzform: Am Ende wird alles gut, und weil es noch nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende.

II.

Soweit so gut, könnte man sagen: viele unserer modernen Geschichten funktionieren ja auch so, dass wir in manchen Situationen den Kummer oder die Unsicherheit nur ertragen können, weil wir die Aussicht haben, dass es am Ende doch gut ausgeht, dass sich das Epiphanias-Licht am Ende doch durchsetzt. Das wir nur eine kleine Weile Sorgen, Angst und Nöte durchstehen müssen, die sich vom guten, heilen Ende her relativieren. Und ich gestehe, dass mich in diesen ersten Tagen des neuen Jahres mitunter das Gefühl beschleicht, dass wir diese Hoffnung, diese Zuversicht auf ein gutes, hellen Ende besonders dringlich brauchen. Manchmal stockt einem doch der Atem, wenn man all die unversöhnliche Empörung, all die Schaum-vorm-Mund-Reden, all die eskalierende Wut und die penetrante Kompromissverweigerung anschaut, in denen sich unsere Gesellschaft gerade einzurichten scheint. Für mich ist das Symbol für diese ganze demokratiegefährdende Stimmung dieser wunderbar absurde Satz des Vorsitzenden des bayrischen Bauernverbandes: „Wir sind natürlich zum Dialog bereit, aber nicht zu Kompromissen!“ Dass man dann keinen Dialog braucht, ist dem guten Mann gar nicht aufgefallen. Und dass Demokratie von der Kompromissfähigkeit aller lebt, von der Fähigkeit, einen Schritt zurückzutreten von seinen eigenen Interessen, das scheint mit diesem Satz auch vom Tisch zu sein. Und, liebe Gemeinde, faktisch leben wir ja noch gar nicht in wirklich schweren Krisen, jedenfalls wenn man sich mit anderen Ländern weltweit vergleicht oder wenn man an die Vorboten des wirklichen Klimawandels denkt in Form von zu viel Wasser oder zu viel Sonne oder zu viel Sturm. Der eigentliche Stresstest für unsere demokratische Gesellschaft steht uns noch bevor. Aber wie sollen wir den bestehen, wenn schon erste Zumutungen zu persönlichen Bedrohungen von Politikern*innen führen? Und das richtet sich nicht speziell gegen die Bauern, andere Lobbygruppen sind genauso drauf. Es ist in meinen Augen die weit verbreitete „Weselsky-Mentalität“: Wir wollen alles und zwar sofort! Sonst legen wir das Land lahm. Sie macht es mir schwer, unverzagt an ein gutes Ende zu glauben.

III.

Kann die Kirche, kann der Glaube, kann die Theologie hier irgendwie helfen? Können wir mithelfen, diese wachsende Unversöhnlichkeit der Positionen zu heilen? Nun hat der biblische Text noch eine lehrreiche Pointe, die mit der Erinnerung an Esau verbunden ist und darum etwas schwer zu erkennen ist: Da heißt es, dass man das Ziel des himmlischen Jerusalem nur erreicht, wenn man sich nicht ablenken lässt wie Esau, „der um der einen Speise willen sein Erstgeburtsrecht verkaufte. 17Ihr wisst ja, dass er hernach, als er den Segen ererben wollte, verworfen wurde, denn er fand keinen Raum zur Buße, obwohl er sie mit Tränen suchte.“

Es gibt keine zweite Chance! Den Weg hin zum himmlischen Jerusalem kann man nur ein einziges Mal einschlagen, nämlich mit der Taufe auf den Namen Jesus Christus. Wer sich aber dann noch einmal abwendet vom Glauben, der wird wie Esau enden, also ohne Segen, ohne Zugang zum himmlischen Jerusalem.

Das ist schon harter Stoff, liebe Gemeinde, keine zweite Chance, der Hebräerbrief kennt noch keinen Kompromiss, keine Güte, keine Barmherzigkeit für einen zweiten Anlauf. Die Erwählung zum Christen muss zur untadeligen Heiligkeit führen, wer aber diese verletzt, der ist raus – ein für alle Mal. Auch hier schaut uns eine Kompromisslosigkeit an, die nur zu Verwerfungen führen kann.

Diese Unbarmherzigkeit und Kompromisslosigkeit des Hebräerbrief war für Martin Luther ein Grund, diesen Brief ganz ans Ende des NTs zu verlegen. Luther wollte zwar, dass alle Menschen die Bibel selbst lesen können, aber sie sollten bitte zuerst den glaubensstärkenden Römerbrief lesen und nicht diesen gnadenlosen Hebräerbrief. Luther griff damit auf sehr viel ältere Traditionen zurück, die sich im Mittelalter entwickelt hatten:

Es ging damals um den sog. Köhler-Glauben, was nichts mit dem ehemaligen Bundespräsidenten Köhler zu tun hat. Sondern mit den Köhlern, also jenen Menschen am Rande der damaligen Zivilisation, die in den Wäldern arm und ungebildet lebten und Holzkohle für die Städter herstellen. Die Theologen diskutieren dann jahrelang die Frage, ob eigentlich ein Köhler, der keine Ahnung von der Bibel, von Christus, von der Erlösung am Kreuz und von der hl. Trinität hat, überhaupt selig werden kann. Kann jemand, der nichts vom Glauben kennt, dennoch in den Himmel kommen? Die erstaunlich barmherzige Antwort lautete: Wenn er glaubt, was die Kirche glaubt, kann er in den Himmel kommen? Das war natürlich einerseits eine Machtdemonstration feinster Art, aber zugleich doch auch die Entdeckung des stellvertretenden Glaubens, der Überzeugung, dass nicht jede*r alles verstehen und glauben muss und dennoch den Segen des gütigen Gottes erlangen kann. Mitunter müssen andere Menschen für mich glauben, müssen an meiner Stelle jene Zuversicht auf ein gutes, gesegnetes Ende festhalten, auch gegen meine Verzweiflung und meinen Glaubensverlust. Solch einen stellvertretenden Glauben hat es faktisch immer gegeben, immer haben sich Menschen Glaube ausgeliehen in schweren Zeiten, in innerer Not, in Jammer und Ungewissheit. Ungeübte haben sich am Bekenntnis der Kirche zum gnädigen Gott angelehnt und gehofft, dass die Gemeinschaft der Glaubenden auch für sie vor Gott eintritt – so wie Christus für uns alle. 

IV.

Für mich verbindet sich mit diesem Gedanken eines stellvertretenden Glaubens immer auch die Möglichkeit zur Umkehr, zur zweiten Chance, zur Buße. Weil es immer Menschen gibt, die den Glauben an Gott und das Lob seiner Güte aufrechterhalten, deswegen kann ich wiederkommen. Ich kann einparken in fremder Zuversicht, ausruhen in geliehener Gewissheit, ich kann mir einen Glauben zumuten, der mich also mutig macht, obwohl ich selbst ganz erschöpft bin. Manchmal, wenn ich Menschen Kerzen entzünden sehe in einer Kirche, erwische ich mich bei diesem Gedanken: der oder die leiht sich Glaubenskraft aus, die in solch einem Kirchenraum präsent ist. Und ich bin sehr dankbar dafür, dass solch stellvertretende Heiligkeit möglich ist. Denn heilig sind Räume, die es anderen leichter machen, an Gott zu glauben.

Nun, liebe Gemeinde, Sie ahnen jetzt, wie diese Predigt endet: Es ist um so wichtiger, dass es immer diese Gemeinschaft gibt, die den Glauben und die Ehre Gottes bekennen und feiern, mit Musik und Ritual, mit Zeugnis und Tat, damit Ungeübtere eine zweite Chance bekommen und an Umkehr, Buße und Güte erinnert werden. Ich bin davon überzeugt, dass unsere zerstückelte, zerrissene Gesellschaft nicht nur die diakonische Tat der Kirchen braucht, sondern auch ihr stellvertretendes Gebet, ihre geistliche Fürsorge und spirituelle Kompetenz, damit die Kräfte der Umkehr und Versöhnung, die Erinnerung an Barmherzigkeit und Güte nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Denn diese Erinnerung an Gottes Güte und seine Barmherzigkeit ist die kirchliche Zwillingsschwester jener politischen Kompromissfähigkeit und Selbstrelativierung, die wir dringlichst brauchen. Amen