Predigt · Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres· Volkstrauertag · 19. November 2023 · Pastor Thies Gundlach
Liebe Gemeinde,
ich beginne mit einem Geständnis: ich finde das vorhin gehörte Evangelium vom Endgericht, das zugleich Predigttext ist, zu schlicht, zu einfältig, modern gesagt: zu unterkomplex. 0-1, schwarz-weiß, Bock-Schaf, gut-böse! Es ist als wüsste Matthäus nicht, dass der Mensch „Krummes Holz – Aufrechter Gang“ ist, dass er immer Humanität und Haß, Größe und Grenze, Güte und Gewalt in sich trägt. Und leider kann ein solch schlichtes schwarz-weiß Beurteilen geistlich auf beiden Seiten zu großem Unheil führen: wer sich als Bock weiß, ertrinkt in Angst vor der Hölle; wer sich als Schaf weiß, bildet sich zu viel ein und erschafft nicht selten die Hölle auf Erden – für die anderen. Dagegen hat Paul Gerhards Lied – gesungen eben vor der Predigt – so gar nichts mehr vom Verurteilen, sondern liegt ganz auf der Linie des Friedens, der Heimkehr zu Gott, des Verlassens der Welt – frei nach dem Motto: das Diesseits ist Hölle genug.
Allerdings muss ich eingestehen, dass Matthäus im Grunde ein Prophet der Gegenwart in ganz anderer Weise ist: Bei Mth hängt die göttliche Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Christen ab von den guten Taten für die Geringsten, und genau damit kann er sozusagen direkt mit der Gegenwart korrespondieren, denn die Ergebnisse der jüngsten Kirchlichen-Mitgliedschafts-Untersuchung KMU endet im Grunde ebenfalls dort – nur das heute nicht mehr Gott, sondern die Welt über die Glaubwürdigkeit des Glaubens und der Kirche urteilt. Aber der Reihe nach:
KMU, das ist die alle 10 Jahre stattfindende Selbstbefragung der Kirche, diesmal unter der Überschrift: „Wie hältst du`s mit der Kirche?“ Annähernd 5300 Menschen sind mit annähernd 600 Fragen zu Kirche, Glaube und Religion beschäftigt worden, anonym und digital, um ehrliche Antworten zu bekommen. Viele Ergebnisse sind interessant, man müsste mal einen Gemeindeabend machen, um die Ergebnisse für Interessierte vorzustellen. Aber das Kernergebnis der Untersuchungen lässt sich in folgende kleine Geschichte packen:
Ein Journalist fragt vier Menschen: Was fehlt der Welt, wenn es keine Kirchen mehr gäbe? Er bittet um eine kurze Antwort:
Der Erste antwortet: Gar nix fehlt der Welt, im Gegenteil, es ist gut, dass der religiöse Spuk vorbei ist. Diese Antwort entspricht 56 % aller Befragten, also mehr als der Hälfte aller Deutschen, die ein strikt naturwissenschaftliches Weltbild haben, in dem Religion eher befremdlich betrachtet wird.
Der Zweite antwortet: Was der Welt fehle? Der Welt ginge ganz viel Bildungsarbeit verloren, in Schulen und Kitas, in Akademien und Universitäten. Und der Dritte antwortet: Auch geht der Welt die Diakonie verloren, Altenheime, Tagespflege, Jugendbetreuung usw. Und diese beiden Antworten spiegeln etwa 30 % aller Befragten. Und der Vierte? Was der Welt fehlen würde ohne die Kirche? Gott ginge der Welt verloren. Und damit spricht er nur noch für 13 % aller Menschen. Das sind verdammt wenige!
Das war dann auch die Überschrift der meisten Kommentare zu der jüngsten KMU: Der „Mahlstrom der Säkularisierung“ schreitet unaufhaltsam voran, oder – um ein berühmtes Zitat zu nutzen: „Die Säkularisierung in ihrem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf!“ Und ein kluger Kommentator schreibt in einer Zeitung für Deutschland konsequenterweise: „Findige Organisationsberater würden beiden Kirchen angesichts der Studienergebnisse womöglich raten, sich künftig konsequent als Sozialdienstleister zu verstehen und die defizitäre Konzernsparte Religion abzustoßen.“ (FAZ, 15.11. Seite 8).
Der Markenkern des Glaubens, der Rede von Gott, von der Religion oder dem Heiligen ist nicht gefragt, selbst innerhalb der Kirche nicht, sondern die Rede von Gott und Glaube lässt die Menschen fremdeln. Also gilt: Macht es wie Matthäus, wendet euch den Geringsten unter den Brüder und Schwestern zu, das ist allein erfolgsversprechend – damals vor Gott, heute vor der Welt.
II.
Nun wird man zweifellos sagen können, dass die Diakonie, die Zuwendung zu den Armen, die Hilfe für die Geringsten immer schon ein wesentlicher Bestandteil aller christlicher Kirchen war und ist; eine Kirche ohne diese Zuwendung ist unglaubwürdig und verrät die Armen. Der Heilige Martin von Tours, der seinen Mantel teilt, ist eine Grundfigur christlichen Glaubens. Doch gehört zur Kirche immer auch mehr und anderes. Die Alten sprachen davon, dass das Wesen einer christlichen Kirche immer dreifach ist: zu ihr gehört die Diakonie, aber auch die leiturgia und die martyria, also zur Barmherzigkeit gehört das Feiern und das Bezeugen Gottes. Oder modern gesagt: Ohne Gotteslob, ohne Zeugnis von Christus verliert auch die Diakonie ihren Markenkern. Ohne Gotteslob und Christuszeugnis werden die Kirchen zu einem Sozialdienstleister unter anderen.
Damit, liebe Gemeinde, haben wir in meinen Augen den Kern des Kummervollen, ja des Traurigen, das zum Verzweifeln führende Ergebnis der KMU erreicht: „Wir sollen von Gott reden, aber kaum noch jemand hat Lust und Neigung zuzuhören.“ Die Mehrheit will von Gott nichts mehr hören, sie hat kein Interesse am Heiligen, am Religiösen, an den Dingen, Sphären und Dimensionen, die nicht rational-naturwissenschaftlich erfassbar sind. Wir leben nicht nur in einer postheroischen, postfaktischen, postmodernen Welt, sondern auch in einer postkonfessionellen und postreligiösen. „Bei uns geht die Post ab“, könnte man ironisch sagen, wobei solches Postabgehen ja zumeist in einem Taumel endet. Und tatsächlich taumelt unsere Welt ja durchaus hin und her zwischen religiösem Fundamentalismus mit Zügen zur Gewalttätigkeit und KI-gesteuerten Fake-News mit Zügen zum Irrationalen.
Traurig aber ist auch die Einsicht, dass die Verkündigung einer ganzen Generation (der Babyboomer) keinen Weg gefunden hat, den Glauben an Gott attraktiv und einleuchtend zu verkündigen. Man mag zu Recht die Säkularisierung für übermächtig halten, es geht nicht um Schuldzuweisung an die Kirchen und ihre Verkündiger, sondern um die Tatsache, dass meine Generation keinen Weg gefunden hat, Gott groß sein zu lassen. Es ist als ziehe sich Gott jedenfalls aus unseren Breiten zurück, als finde sein Hl. Geist keinen Weg zu unseren Herzen, als sei Christus längerfristig aushäusig. Und das ist traurig.
III.
Liebe Gemeinde, in meinen dritten Gedankenschritt riskiere ich dennoch eine dicke Lippe: Ich bin davon überzeugt, dass es einer Gesellschaft nicht gut tut, wenn sie den christlichen Gott vergisst bzw. vergessen hat, dass sie ihn vergisst. Denn die christliche Religion ist mittlerweile eine reife, eine erwachsene, eine unaufgeregte Religion, da sie hat alle Fehler unter Gottes Sonne schon gemacht hat, die eine Religion überhaupt machen kann. Sie hat ihre Abgründe reflektiert und ihren Größenwahn eingestanden, sie hat ihren Nationalismus korrigiert und ihren Antisemitismus jedenfalls einigermaßen im Griff. Und weil sie ihre Ideale und ihren Anspruch immer auch verraten hat, trumpft sie keineswegs mehr auf als allein rechtmäßige Gotteserkenntnis, sondern kann die Güte, die Barmherzigkeit, den Trost und die Demut in ihre Mitte stellen. Ich glaube, dass eine 2000 Jahre lang gereifte, durch viele Fehler geläuterte Religion mit ihrer ganzen Unaufgeregtheit und Gelassenheit, ihrem Schuldbewusstsein und selbstkritischen Haltung, mit ihrer ökumenischen Weite und politischen Abgeklärtheit einer Gesellschaft gut tut. Sie kann heilen, wenn Menschen sich gegenseitig verwunden, sie trösten, wenn es schweren Kummer gibt, sie kann Demut fördern, wenn Größenwahn Einzug erhält, sie kann die Lautstärke runterdimmen, wenn es wieder mal zu aufgeregt zugeht. Ob sie das immer und zeitig genug tut, ist eine andere Frage, aber der christliche Glaube kann der Seele einer Gesellschaft gut tun, und diese heilende Wirkung ist mindestens so wertvoll wie die Hilfe, die sie den Geringsten unter uns allen zukommen lässt. Doch ohne die Rede von Gott und ohne die Feier seiner Gegenwart wachsen diese geistlichen, spirituellen Kräfte nicht nach, alsbald weiß niemand mehr, wie heilsam die Stille des Betens ist, wie tröstend das Singen von Chorälen, wie stark die Bilder der Bibel und wie kraftvoll die Demut der Güte sein kann. Und das ist auch traurig.
IV. Nachwort:
Natürlich müssen sich dafür die Kirchen massiv verändern, ihre Sprache, ihr Organisation, ihr Selbstverständnis und ihren Auftritt. Hier haben wir Babyboomer lange Jahre genauso auf Verschleiß gelebt wie die Deutsche Bahn, die Bundeswehr, die Straßen und die Behörden. Und tatsächlich erwarten mehr als 80% aller Gefragten laut KMU von den Kirchen fundamentale Veränderungen. Doch so sehr ich diese Veränderungsnot-wendigkeit auch sehe und selbst in meinem Berufsleben in der EKD diese Modernisierung immer unterstützt habe, so sehr habe ich nun die Sorge, dass wir das Kind mit dem Bade ausschütten und den Glauben mit der Anpassung an die Erwartungen abschütteln. Dass wir Gott noch mehr vergessen und nur noch die Sozialleistungen betonen, die wir für die Gesellschaft erbringen. Eine nützliche Kirche ohne Gott ist aber wie eine Welt ohne Bäume: auf die Dauer für alle tödlich. Gott bewahre uns vor solch einem Weg. Amen