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Predigt · 22.Stg.n.Trn. · 5. November · Misselwitz

Posted on Nov 6, 2023 in Predigten

Ruth Misselwitz

1. Johannes 2,12-17 · Bibel in gerechter Sprache

12Ich schreibe euch, Kinder: Durch Jesu Namen ist eure °Gottferne aufgehoben. 13Ich schreibe euch °Älteren: Ihr habt den Ursprung erkannt. Ich schreibe euch Jüngeren: Ihr habt das Böse besiegt.
(14Ich habe euch, Kinder, geschrieben: Ihr habt °Gott erkannt. Ich habe euch Älteren geschrieben:
Ihr habt den Ursprung erkannt. Ich habe euch Jüngeren geschrieben: Ihr seid stark, das °Wort Gottes bleibt in euch und ihr habt das Böse besiegt.)
15Liebt nicht die Welt und nicht, was in der Welt ist. In denen, die die Welt lieben, ist °Gottes Liebe nicht. 16Denn alles in der Welt: das °materielle Verlangen, das Streben nach Äußerlichkeiten und das Protzen mit Besitz, ist nicht °göttlich, sondern weltlich. 17Die Welt vergeht und ebenso das Verlangen nach ihr – die aber den Willen Gottes tun, bleiben in °Ewigkeit.


Liebe Schwestern und Brüder,
der heutige Sonntag steht unter dem Thema der Sünde und der Sündenvergebung. Also, jetzt mal Hand auf´s Herz: wen treibt denn das Thema „Sünde“ heute schon um. Ist „Sünde“ nicht ein antiquierter Begriff, der mit moralischen Vorhaltungen wie Enthaltsamkeit, Askese und Verzicht verklebt ist, und nur von besonders frommen und weltabgewandten Menschen benutzt wird? Wer mit dem Begriff Sünde operiert, wird vermutlich sofort in eine klerikale Ecke geschoben.

Im normalen weltlichen Leben, und ich denke besonders an die Jugend, hat dieser Begriff doch keine Bedeutung mehr. Man lässt sich doch damit nicht mehr von Moralaposteln einschüchtern. Es ist leider in der Tat so, dass die Kirche diesen Begriff über die Jahrhunderte hindurch als ein Machtmittel missbraucht hat, um Einfluss über die Menschen zu gewinnen und sie von sich abhängig zu machen.

Mit der Sünde ging auch die Strafe Gottes einher und vor dieser Strafe konnte nur die Kirche schützen, indem sie als Stellvertreterin Gottes auf Erden Sünden vergeben konnte. Vor der Strafe Gottes fürchten sich heute auch immer weniger Menschen, weil der Glaube an einen Gott, geschweige denn einen zornigen Gott, immer mehr aus dem Bewusstsein schwindet.

Schicksalsschläge, Naturkatastrophen, Krankheit und Tod werden heute zunehmend als das
genommen, was sie sind:
Verknüpfungen von Ursache und Wirkung naturwissenschaftlicher Gesetzmäßigkeiten, oder bedingt durch das eigenmächtige Eingreifen des Menschen in diese Gesetzmäßigkeiten.
Doch, liebe Schwestern und Brüder, angesichts der bedrohlichen Lage unseres Planeten, der durch die Menschheit auf der Suche nach Rohstoffen und Energie immer mehr geplündert und geschunden wird und angesichts des jämmerlichen Zustandes der Menschengemeinschaft, die durch Krieg, Gewalt und Ungerechtigkeit mehr und mehr auseinanderbricht, schleicht sich doch die Frage ein – was ist los mit der Menschheit?

Erst der Überfall auf die Ukraine, dann der Überfall auf Israel und die Vergeltungsschläge im
Gazastreifen, von den vielen anderen Konfliktherden auf dieser Welt mag ich gar nicht erst anfangen.

Hat denn die Menschheit aus der Geschichte nichts, aber auch gar nichts gelernt? Soll das denn immer und immer so weitergehen bis sich die Menschheit ausgerottet und diese Erde verwüstet hat? Über Mittel und Wege dazu verfügt sie allemal. Wer kann denn diesem Wahnsinn Einhalt gebieten? Und vor allen Dingen – woher kommt denn all das Böse, das Zerstörerische, der Hass und die Zwietracht? Ist das die Sünde, die den Menschen zerstört mitsamt seiner Umwelt?

In dem Text aus dem 1. Johannesbrief übersetzt die Bibel in gerechter Sprache das Wort „Sünde“ mit „Gottferne“. Der Schreiber des Johannesbriefes sieht die Welt unterteilt in Licht und Finsternis.
Gott ist das Licht, in ihm ist keine Finsternis, und das Licht bedeutet Liebe, Wahrheit, Gerechtigkeit – Leben. Die andere Seite aber ist die Finsternis, sie ist das Gegenteil vom Licht. In der Finsternis herrschen die Gegenkräfte der lebenserhaltenen und lebensspendenden Kräfte – in der Finsternis herrschen Hass, Gewalt, Neid und Tod.
Der Mensch aber steht dazwischen, er wird von der einen wie auch von der anderen Seite
angezogen, er muss sich entscheiden für die Finsternis oder für das Licht. Lässt er sich vereinnahmen von der Finsternis, so ist er weit entfernt vom Licht – also von Gott.
Die Gottesferne – die Sünde herrscht dann über ihn. Er verstößt gegen die von Gott gegeben Gebote entweder aus Unwissenheit, weil er sie gar nicht kennt in seiner Gottesferne, oder aus Ungehorsam, weil er meint, sie nutzen ihm nichts. Er missachtet die Liebe, die Gerechtigkeit, die Wahrheit und die Barmherzigkeit und lädt Schuld auf sich. Er macht sich schuldig gegen seinen Mitmenschen und gegen Gott und verdient seine gerechte Strafe.

Doch welcher Mensch kommt ohne Schuld durchs Leben? Wer kann von sich behaupten, er wandelt vollkommen im Licht? Niemand – also sind wir alle dem Tod geweiht und hoffnungslose Fälle?
Doch der Schreiber des Johannesbriefes zeigt einen Ausweg:
Die Liebe Gottes zu den Menschen ist stärker als sein gerechter Zorn, er hat sich als Mensch unter die Menschen in Jesus Christus begeben, das Leben mit ihnen geteilt, ihnen ein gottgefälliges Leben vorgelebt und sie aufgefordert, es ihm nachzumachen, er hat mit ihnen Gemeinschaft erfahren, Freundschaft, Liebe, Vertrauen, aber auch Ablehnung und Verrat und am Ende hat er sich sogar von ihnen grausam umbringen lassen.
Er hat ihre lichten Höhen aber auch ihre dunklen Abgründe erfahren, er weiss um ihr Unvermögen, sich dem Bösen zu widersetzten, er weiss aber auch um ihre Kraft zur Liebe, die das Böse überwindet und Gemeinschaft stiftet.
Gott hat sich in die Menschheit verliebt und er verzichtet auf Vergeltung – mehr noch – er bietet Vergebung und ewiges Leben an.

Liebe Schwestern und Brüder, wir hörten vorhin in der Evangeliumslesung die Geschichte, in der Petrus Jesus fragt, wie oft er denn seinem Bruder vergeben muss, der an ihm gesündigt hat – genügt es siebenmal? Und Jesus antwortet: Nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal.
Das ist – ich hab es ausgerechnet – 490 mal. Das ist nicht unendlich, aber immerhin eine für mich unvorstellbar hohe Anzahl von Verletzungen einerseits und darauffolgender Vergebung andererseits. Wer kann das aushalten?


Liebe Schwestern und Brüder,
wir haben am letzten Sonntag in der Predigt etwas über den Westfälischen Frieden gehört, der nach 30 Jahren Krieg und 5 Jahren Verhandlungen geschlossen wurde. Die unzähligen Verletzungen an Leib und Seele, die sich die Menschen im Kriegswahn angetan haben, kann kein Gericht wieder gut machen. Das Aufzählen von Schuld und Vergeltung würde einen unüberwindlichen Berg auftürmen, der die Parteien immer weiter auseinandertreibt.
Noch nicht einmal der Rechtsspruch „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ könnte verwirklicht werden, weil unzählige kaputte Augen und Zähne ungesühnt blieben.

So hat man sich damals nach jahrelangem Mühen geeinigt, nicht mehr zurück, sondern nach vorne zu schauen. Um des Überlebens willen muss es einen Neubeginn geben, mit schwierig ausgehandelten Regeln und Vereinbarungen, die ein zukünftiges Miteinander sichern.
Kein Aufrechnen der Schuld mehr, kein Zurückschauen und Festhalten an dem Schmerz, sondern der Blick nach vorne und ein Neustart, gemäß dem Jesuswort:

Wer die Hand an den Pflug legt und schaut zurück, der ist nicht geeignet für das Reich Gottes. (Luk. 9,62).

Das bedeutet nicht, dass die Wunden geleugnet werden – nein – sie müssen mit geeigneten Mitteln therapiert – geheilt werden. Vergebung der Sünden ist kein verstaubter antiquierter Begriff, er garantiert das Überleben der Menschheit im Großen wie im Kleinen. Und kein geringerer als der Höchste und Mächtigste hat uns das vorgelebt. Und er traut uns zu, es ihm gleich zu tun.
Wer kann das leisten? Niemand – jedenfalls niemals vollständig, aber für uns, die wir seine Gebote und Weisungen kennen, bedeutet es, sie zu lernen, zu achten und sie weiterzugeben, danach zu trachten und sie lebendig zu halten.
Wir die wir uns Christen nennen, haben uns nicht nach den Gesetzten dieser Welt zu richten, sondern nach den Gesetzen, die uns Jesus in der Bergpredigt und in seinem Leben vorgelebt hat.
Wir – die Kirche – die Gemeinschaft der Heiligen werden zu Recht an der Botschaft Jesu Christi gemessen, an unseren Taten werden wir als die Nachfolger Jesu erkannt oder auch nicht. Doch bei all unserer Unvollkommenheit vertrauen wir darauf, dass auch uns vergeben wird, wenn wir zu schwach sind, seine Gesetze einzuhalten.

Und nun liebe Schwestern und Brüder, komme ich zum letzten und für mich tröstlichsten Vers in diesem Johannestext.
17Die Welt vergeht und ebenso das Verlangen nach ihr – die aber den Willen Gottes tun, bleiben in °Ewigkeit.
Irgendwann hat das alles mal ein Ende. Wann es mit der Welt ein Ende hat, weiss ich nicht, aber ich weiss, dass es ganz sicher einmal mit mir ein Ende haben wird. Und dann darf ich darauf vertrauen, dass ich nach dem Tod nicht ins Nichts falle, sondern in die Hände Gottes und ich werde sein Licht sehen. Dann werde ich erlöst sein von der Finsternis und ich werde alles verstehen, was mir im Leben unbegreiflich war, dann werde ich geborgen sein in der Liebe Gottes, wie ein Kind im Bauch der Mutter. Und das ist für mich nicht ein Vertrösten ins Jenseits, sondern ein Trost, der mich durch die Wirren dieses Lebens trägt.