Predigt · 21. Sonntag nach Trinitatis · 29. Oktober 2023 · Pfarrer Michael Hufen
Liebe Gemeinde,
wenn man in Osnabrück ins Rathaus gehen möchte, muss man eine ganz besondere Türklinke herunterdrücken, aus Messing, über die Zeit schon abgegriffen, aber eindeutig: da steht die Zahl 1648 und obendrauf sitzt eine Friedenstaube.
Am 25 Oktober 1648, also ziemlich genau vor 375 Jahren, wurde von der Treppe dieses Rathauses der Westfälische Frieden verkündet. Am Tag zuvor hatten Kaiser Ferdinand III. und König Ludwig der XIV. auf der einen und die schwedische Königin Christine auf der anderen Seite die beiden Friedensverträge, die in Münster und Osnabrück ausgehandelt wurden, unterschrieben.
„Wir sind doch nunmehr ganz, ja mehr denn ganz verheeret!
Der frechen Völker Schar, die rasende Posaun
Das vom Blut fette Schwert, die donnernde Karthaun
Hat aller Schweiß und Fleiß und Vorrat aufgezehret.“
Andreas Gryphius hat dieses Gedicht „Tränen des Vaterlandes“ nach 19 Jahren Krieg veröffentlicht, 11 weitere Jahre Krieg, Hunger, Zerstörung, Vertreibung, Elend und Not sollten noch folgen.
„Hier durch die Schanz und Stadt rinnt allzeit frisches Blut.
Dreimal sind schon sechs Jahr, als unser Ströme Flut,
Von Leichen fast verstopft, sich langsam fort gedrungen.
Doch schweig ich noch von dem, was ärger als der Tod,
Was grimmer denn die Pest, und Glut und Hungersnot,
Dass auch der Seelen Schatz so vielen abgezwungen.“
Nach 25 Jahren Krieg hatte man sich endlich besonnen. Ein für alle Kriegsparteien akzeptabler Ort wurde gefunden, in Münster und Osnabrück. Die Abgesandten zogen mit Kind und Kegel an den Verhandlungsort und mühten sich 5 Jahre lang erst die Verhandlungen erst zu ermöglichen und dann tatsächlich Verträge unterschriftsreif zu machen, die eine neue Friedensordnung in Europa ermöglichten, Religionsfreiheit für Katholiken, Protestanten und Reformierte und Religionsfrieden – auch wenn die Katholiken damals noch die Bevölkerungsmehrheit hatten, durften sie die Evangelischen im Reichstag nicht überstimmen.
Sieben Millionen Menschen, etwa ein Drittel der damaligen Gesamtbevölkerung in Europa waren durch den Krieg und seine Folgen ums Leben gekommen und bei den Verhandlungen musste man erst einmal klären, wer wen zuerst zu grüßen hatte und ob der französische oder der spanische Gesandte nun 6- oder 8-spännig vorfahren durfte.
Aber man hat sich geeinigt – trotz aller Widerstände. Die Söldnerführer, sozusagen der militärisch-industrielle Komplex der frühen Neuzeit, hatten kein Interesse am Frieden. Schließlich ernährt der Krieg den Krieg und man konnte damals wie heute unermesslich reich werden, wenn man erst auf der einen, dann bei besserer Bezahlung auf der anderen Seite kämpfte und dabei nie vergaß, den Krieg am Laufen zu halten – Frieden ist tödlich fürs Geschäft der Waffenhersteller, -händler und Söldnerunternehmen.
Die Tauben haben über die Falken gesiegt – ein geradezu utopisches Bild.
Und ich frage mich bei allem Wissen über politische Ränkespiele und geostrategische Interessen immer wieder, wie Menschen so unterschiedlich denken, fühlen und handeln können. Als Falke, der – und der Vollständigkeit halber auch DIE – bereit ist, in jeden Krieg zu ziehen, gewaltige Opfer und Zerstörung in Kauf zu nehmen, wenn es den eigenen Interessen und der eigenen historischen Mission dient – oder als Taube, die und der – genau die gleichen Interessen und Ziele verfolgt, vielleicht nicht weniger machiavellistisch unterwegs ist, als ein Falke, aber alles versucht, dass die Interessengegensätze eben nicht mit Gewalt ausgetragen werden, der Krieg verhindert oder schnellstmöglich beendet wird.
Die Philosophin Hanna Arendt hat einmal gesagt: „Es ist egal, was du glaubst, wichtig ist, wer du bist.“ – einfach gesagt: an deinen Taten wirst du erkannt werden. Alle Worte und Bekenntnisse treten zurück oder werden unglaubwürdig, wenn ich nicht so handle oder wenn meine so hohen Ansprüche nur für meine Sache gelten. Völkerrecht, Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit gelten immer und für alle Menschen oder sie gelten nicht. Mein Gegenüber ist immer erst einmal ein Mensch, mit gleichen Menschenrechten wie ich und mein benachbartes Land oder Volk hat ein Recht genau wie ich in einem System verlässlicher kollektiver Sicherheit zu leben. Und wenn ich anderen Menschen und Völkern diese grundlegenden Rechte abspreche und Sicherheit nur für mich gelten soll – ja dann sollte ich anfangen, die ein oder andere grundlegende Frage zu stellen …
Wer bin ich? Wer will ich sein?
„Sei ein Mensch“ – sagt ein Vater seiner Tochter in dem Buch, das ich gerade lese. Auf jiddisch klingt das sehr schön: „Sey ejn Mensch!“
Und das ist schwer genug. Wir haben es gerade im Evangelium gehört. Nicht vergelten, die andere Backe hinhalten, nicht nur den Rock, sondern auch den Mantel geben und – jetzt wird es ganz aktuell und wieder fast utopisch: liebet eure Feinde und betet für sie.
Das ist schwer, aber wie es Daniel Barenboim mit Blick auf den brutalen Konflikt zwischen den Palästinensern und Israel gesagt hat: Nur eine Aussöhnung zwischen Israelis und Palästinensern könne den Frieden sichern. Dazu müssten beide Seiten „ihre Feinde als Menschen erkennen“.
Liebe Gemeinde,
der Soziologe Hartmut Rosa erzählt von seinem Vater, dass der über das Kirchenjahr sagt: Es ist total langweilig, da passiert ja nix. Jedes Jahr das Gleiche, seit 2000 Jahren.
Rosa sagt dazu, dass es gerade das ist, worum es geht. Keine Innovation, keine Orientierung an ökonomischer Verwertbarkeit und ein ganz anderes Konzept von Raum und Zeit, als unsere moderne Welt uns vorlebt. Im sich Einlassen auf die Ruhe der Kirche, die vertrauten Lieder und vertraute Liturgie sich aus der Zeit bewegen, um so zu sich zu kommen, ein Mensch zu sein, frei von Nützlichkeitsüberlegungen sich beschenken zu lassen. Er nennt es: aus dem Aggressionsmodus herauszutreten. Dazu bietet Religion die Möglichkeit, weil sie über die Elemente verfügt, die uns daran erinnern können, dass eine andere Weltbeziehung als eine steigerungsorientierte, auf Verfügbarmachung Zielende möglich ist.
Der heutige Predigttext ist mindestens hochaktuell und stellt uns – so würde ich mal behaupten – ganz im Sinne von Hartmut Rosa in so einen neuen Raum, in dem jede Aggressionshaltung verschwindet:
Im 1. Buch Mose wird im 13. Kapitel von Abraham und Lot erzählt
-vorlesen-
Liebe Gemeinde, sie erinnern sich vielleicht an einen Satz, den ich schon mehrmals im Bezug auf die sogenannte Ur- und Vätergeschichte im 1. Buch Mose gesagt habe: sie erzählen Erstmaliges als Allmaliges
Nach dem fürchterlichen Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober mit weit über 1000 Toten und den dadurch ausgelösten andauernden Angriffen auf den Gaza-Streifen durch die israelische Armee mit wohl inzwischen über 5000 Toten, wird es überdeutlich. Der Konflikt in dem Land, das auch wir oft das Heilige nennen, reicht weit, sehr weit in die Geschichte zurück und unser Entsetzen über den Terror und den dauernden Krieg ist so groß wie es unser Mitleid mit den Opfern und ihren Angehörigen.
Und doch erzählt die Bibel im 1. Buch Mose von einer geradezu utopisch anmutenden Lösung des Konflikts
Da ist die eine Gruppe, nennen wir sie die Abraham-Fraktion. Die sagt: Endlich sind wir angekommen im Land, das uns verheißen ist. Das ist jetzt unser Land. Unsere Herden sollen hier weiden, unsere Familien sollen sich niederlassen, wir wollen Häuser bauen, unsere Kinder sollen Berufe erlernen und sich ein Leben aufbauen in Wohlstand und Zufriedenheit. Lange genug hat es gedauert, bis wir endlich hierher gelangt sind, nun soll es uns gut gehen, keiner soll unseren Wohlstand stören, keiner daherkommen und Anspruch erheben auf das, was uns gehört. Dann ist da auch noch die andere Gruppe, die Lot-Fraktion. Die Leute der Lot-Fraktion sagen: Wir sind schließlich auch noch da. Ihr könnt nicht so tun, als wärt ihr hier alleine. Das Land muss auch uns ernähren, ihr könnt nicht nur an euch selber denken. Und außerdem: Was soll diese merkwürdige Begründung, euch wäre das Land verheißen? Da kann ja jeder kommen. Was ist mit denen, die schon vor euch da waren, die Kanaaniter und die Perisiter? Wollt ihr die etwa einfach aus dem Land werfen? Warum behauptet ihr, Anspruch auf das Land zu haben und sprecht das anderen ab? Seid ihr etwa etwas Besseres? Und so stritten sie darüber, wer zu Recht Anspruch auf das Land erhebe und wer zu Unrecht.
Gemeinsam war beiden Fraktionen die Überzeugung: Es reicht nicht für uns alle. Das Land erträgt die großen Herden der Sippen von Abraham und Lot nicht. Darum setzten Verteilungskämpfe ein. Alle fühlten sich beengt und bedroht, jeder war darauf bedacht, seinen eigenen Anteil zu sichern. Was kümmert es uns, wenn sie keine Weideplätze finden! Ist das unser Problem? Teilen, was das Land hergibt – wo kämen wir da hin? Die Feindseligkeit wuchs zwischen der Abraham- und der Lot-Fraktion. Es ging so nicht mehr weiter. Abraham und Lot, beide in verantwortlicher Führungsposition, spürten das genau. Eine Lösung musste her, sonst würde die Lage völlig außer Kontrolle geraten. Also trafen sie sich gewissermaßen zu einem Gipfeltreffen, in Abrahams Zelt, um die Lage zu beraten.
Und Abraham sagte: Es soll kein Zank sein zwischen mir und dir und zwischen meinen und deinen Hirten; denn wir sind Brüder. Steht dir nicht alles Land offen? Trenne dich doch von mir! Willst du zur Linken, so will ich zur Rechten, oder willst du zur Rechten, so will ich zur Linken.
Frieden und neuer Segen. Nicht Aufwiegen und Rechten über das bessere Teil. Pragmatisch, weil Lot eben wie Abraham ein Mensch ist.
Es ist kein ewiger Frieden geworden – wenn man sich das Schicksal von Lot und seiner Familie in Sodom ansieht – kein ewiger Friede, wie auch der Westfälische nicht ewig hielt. Aber es war das Ende eines potentiell tödlichen Konflikts.
Der Frieden als oberstes Prinzip der Politik wird hier wie da festgeschrieben.
Dass der Frieden die Politik leiten soll und nicht der Krieg – dieser Wunsch ist eingraviert in die Türklinken des Osnabrücker Rathauses: „Friede 1648“ steht darauf und erinnert jeden, der eintritt, an dieses historische Datum vor 375 Jahren und vielleicht gibt es bald eine neue Türklinke auf der steht: „Friede 2023“ – und jede und jeder begreift.
Fast utopisch
Es soll kein Zank sein zwischen mir und dir und zwischen meinen und deinen Hirten; denn wir sind Brüder.
Und
Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.
Oder ganz kurz
Sey ejn Mensch!
Amen