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Predigt · 11. Sonntag nach Trinitatis · 20. August 2023 · Pfarrer Michael Hufen

Posted on Sep 6, 2023 in Nachrichten, Predigten

Liebe Gemeinde,

Kennen Sie „Christianesisch“?

Ich bis letzte Woche auch nicht. Dann habe ich in einer evangelischen Monatszeitschrift „Zeichen der Zeit“ eine Kolumne gelesen. „Nach der Volkskirche“ hieß die. Was kommt nach der Volkskirche? Also der Kirche, die nach Zahl und Verankerungen ihrer Traditionen und Riten tatsächlich von der Mehrheit der Bevölkerung nicht nur irgendwie respektiert, sondern tatsächlich von dieser Mehrheit getragen und deren Glaube, der Glaube des Volkes ist. Davon sind wir in D. inzwischen ein gutes Stück entfernt. Weniger als die Hälfte der Deutschen sind noch Mitglied einer der beiden großen Kirchen und auch von den immer noch gut 40 Millionen, kommen im Laufe des Jahres nur etwa 2,5% zu den Gottesdiensten oder bezeichnen sich maximal 50% als religiös. Nun sind statistische Aussagen immer nur ein möglicher Gradmesser für tatsächliche Stimmungen und Haltungen, faktisch werden wir Jahr für Jahr weniger – entfernen uns mehr und mehr vom einstigen Status einer „Volkskirche“.

Die Kolumnistin beschrieb nun diesen Schrumpfungsprozess und verwies darauf, dass auch gemeinhin als christlich beschriebene und hergeleitete Werte inzwischen gut ohne diese Rückbindung als Werte der Gesellschaft eingebürgert sind – ob das tatsächlich stimmt und wie tragfähig das Netz dieser gesellschaftlichen Werte wirklich ist, darüber möchte ich jetzt nicht predigen. Nur soviel: Werte, die immer nur behauptet werden, deren Rückbindung und Begründung aber Stück für Stück verloren gehen, verlieren auch ihre gesellschaftliche Relevanz und verkommen zu bloßen Vokabeln in der politischen Welt. Werden also quasi „politikchinesisch“.

Und die Kolumnistin beschrieb, dass Wörter wie „Gott“, „Sünde“ „Vergebung“ den meisten Menschen heute nichts mehr sagen würden und allenfalls als Aufhänger für eine philosophische Diskussion unter über 60-jährigen Akademikern taugen. Ihren Text schloss sie mit einem Vorschlag einer grünen Bundestagsabgeordneten: ehemalige Kirchen als kommunale Orte der Begegnung weiter zu betreiben. Eine schöne Idee, findet sie. „Eben weil eine Gesellschaft tatsächlich solche Orte braucht: Anlaufstellen für in der Nachbarschaft, Räume für gemeinsame Aktivitäten und Debatten, Zusammenkünfte, bei denen Menschen Halt finden in Zeiten von Krisen, Gemeinschaften, wo sie sich gegenseitig trösten und Mut machen und Zugehörigkeit erfahren können. Aber Kirchengemeinden, in denen „Christianesisch“ gesprochen wird, können diese Orte nicht mehr sein.“

Liebe Gemeinde, nun haben wir heute auch schon ziemlich viel Christianesisch gehört, gesungen und gerade beim Glaubensbekenntnis gesprochen. „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“, „Evangelium“, „Vergebung der Sünden“, das „ewige Leben“, um nur einige verdächtige Begriffe zu nennen.

Und ich stimme zu, es sind große, schwere Worte, und ja, viele Menschen können mit diese – ich nennen sie mal – „Überschriftswörter“ tatsächlich wenig anfangen, nur sind sie deshalb mit einer Fremdsprache, deren über 100 000 Zeichen in ihrer Gesamtheit tatsächlich von sehr wenigen Menschen benutzt wird, zu beschreiben? Zeichen, die nur in ganz bestimmten Situationen und für hochspezielle Gegenstände eingesetzt werden?

Ist es denn nicht viel mehr so, dass der Verlust an Sprachfähigkeit über religiöse Themen und konkret christliche Glaubensinhalte eher Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung ist, deren Folgen genau in der vorgeschlagenen Weiternutzung von Kirchengebäuden benannt sind. Kirchen als Orte der Gemeinschaft, um Halt zu finden, Trost – als Reparaturbetrieb für die, die unter das Rad des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels geraten sind.

Weil eben das ganz offensichtlich in der Gesellschaft, die so gründlich die christlichen Werte adaptiert hat, fehlt?

Liebe Gemeinde

Menschen denken immer noch über den Sinn des Lebens, Sünde oder Leben nach dem Tod nach, sie tun das nur nicht mehr in den starren Vorgaben eines Katechismus, der dann im günstigen Fall auch schon 500 Jahre alt ist. Und sie tun es nicht mit starren auswendig gelernten Lehraussagen, sondern sie tun es anhand von Geschichten und Beispielerzählungen – also auf christianesisch gesagt: mit Mythen und Gleichnissen.

Und mit Geschichten und Märchen. Menschen erzählen sich seit Beginn der Zeit Geschichten nicht nur aus Langeweile oder weil sie die Stille nicht ertragen, sondern weil es gut tut, weil es hilft zu verstehen und weil in den Geschichten Antworten enthalten sind auf unsere großen menschlichen Fragen.

Wenn ich nun anhand einer biblischen Geschichte beschreiben würde, warum das so ist, wäre das – ganz wissenschaftlich betrachtet – sozusagen ein Zirkelschluss. Ich behaupte etwas und zum Beweis meiner Behauptung dient mir deren Inhalt.

Ich möchte vielmehr ein Märchen erzählen.

Hans Christian Andersen  – Die Eiskönigin – Gerda und Kay – Vertrautheit – Freundschaft – Spiegel – Splitter – Herz – kalt – Eis – Eiskönigin – Eispalast  – Gerda macht sich auf die Suche  – Kay ignoriert sie – Gerda weint – Träne tropft auf Kay – Herz taut auf – Eispalast/ Spiegel stehen für die Vernunft – die Tränen für ….

Es ist ein Kunstmärchen. Es erreicht uns, wir denken darüber nach, vielleicht beziehen wir es sogar auf uns. Auf die Härte unserer eigenen Herzen und wir denken darüber nach, warum es so geworden ist. Ohne „du musst“ oder „du sollst“ ohne „wenn du dich so verhältst, bist du nicht mehr mein Freund“, wird uns die Möglichkeit eröffnet, mit uns selbst ins Gespräch zu kommen, mit anderen. Über das Leben, was wir brauchen, was uns gut tut und auch darüber, was uns immer wieder davon abhält, so zu handeln, wie wir es eigentlich mit unseren ganzen schönen Vokabeln so gerne benennen. Ob nun christianesich oder mit den „gesamtgesellschaftlichen Werten“. Wer Geschichten hört und erzählt, wer sich drauf einlässt, den Erfahrungsraum, aus dem sie schöpfen und von dem sie erzählen, zu erkunden, wird sich verändern.

Liebe Gemeinde

Der heutige Sonntag hat als großes Thema die „Demut“ – christianesisch und auf keinen Fall ein gesamtgesellschaftlicher Wert.

Wir haben vom „Pharisäer und Zöllner“ gehört und als Predigttext ist ein weiterer Abschnitt aus dem Lukas-Evangelium vorgesehen

Lukas 7, 36-50

Lukas erzählt uns eine Geschichte voller Grenzüberschreitungen. Eine Frau, eine stadtbekannte Prostituierte kommt in eine Männerrunde, löst ihre Haare, berührt Jesus – macht ihn damit rituell unrein und damit eigentlich auch die ganze Runde wohlanständiger Männer, sie salbt ihn. Aber nicht, wie es üblich war, den Kopf sondern seine Füße. Ja, die Frau küsst gar Jesu Füße und ihre Tränen berühren ihn.

Wie dieser Auftritt bei den Gästen an der Tafel des Pharisäers, der Jesus an seinen Tisch gebeten hatte und bei diesem selbst ankommt, lesen wir hier: „Er sprach bei sich selbst und sagte: Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüsste er, wer und was für eine Frau das ist, die ihn anrührt; denn sie ist eine Sünderin.“

Ja, sie ist eine Sünderin, aber überwältigt vom Gefühl der Dankbarkeit. Lässt sie alle gesellschaftlichen und religiösen Konventionen hinter sich und möchte ihre Dankbarkeit zeigen. Dankbarkeit für die ihr zugesprochene Vergebung. Vergebung ihrer Verfehlungen, mit denen sie sonst ihr ganzes Leben hätte weiterleben, ja sie weitertragen müssen.

Die Größe ihrer Dankbarkeit entspricht dem unfassbaren Geschenk Jesu an sie, dass sie ihr Leben noch einmal neu, ohne Sündenlast beginnen konnte. So viel Dankbarkeit ist in ihr, dass sie keine gesellschaftlichen Regeln mehr einhält. Was sie tut, ist nicht mehr von ihrem Verstand gesteuert, nur noch vom Überschwang ihrer Gefühle.

Und wie hat Jesus das Auftreten dieser Frau erlebt? – Jesus weiß, warum die Frau sich so „unmöglich“ verhält. Er weiß, dass sie ihm unendlich dankbar ist, weil er ihr vergeben hat. Er weiß auch, dass der Pharisäer und die anderen am Tisch Anstoß genommen haben an allem, was die Frau an ihm getan hat. Schließlich weiß er, dass die Tischgenossen alle nicht wissen, warum die Frau, die eine Sünderin gewesen ist, so an ihm handelt. Und er tut, was er immer wieder in solchen Situationen getan hat: Er spricht mit dem Pharisäer: „Simon, ich habe dir etwas zu sagen.“

Und Jesus erzählt die Geschichte von den zwei Schuldnern, von denen der eine viele und der andere wenige Schulden erlassen bekommt. Dann fragt er den Pharisäer: Wer von den beiden wird den, der ihnen die Schulden erlassen hat, am meisten lieben? Wir hätten auf die Frage gewiss genauso geantwortet: „Ich denke, der, dem er am meisten geschenkt hat“,sagt der Pharisäer. Er spricht aus, was richtig ist – und hat, was die kleine Geschichte ihm sagen soll, wohl doch nicht richtig verstanden. Gemeinsam haben die Geschichte von den beiden Schuldnern und der Vorfall mit der Sünderin, dass der Erlass der Schulden und die Vergebung der Sünden schon geschehen ist. Es ist also nicht so, dass der Schuldner, dem viel erlassen und die Sünderin, die von ihren Sünden frei wurde, mit ihrer Liebe und den Taten, die daraus folgen, noch irgendetwas erreichen müssten!

In einem solchen Denken aber waren die Menschen damals (und ich fürchte: noch heute!) gefangen. Es war (und ist) schwer, sich vorzustellen, dass ein Mensch nicht nur seine Liebe zeigt, solange er den Schuldenerlass oder die Vergebung noch nicht erlangt hat.

Aber: es geht um bloße, um reine Dankbarkeit! Der Schuldner, dem viel erlassen wurde, liebt den Gläubiger mehr als der andere Schuldner, weil ihm so viel mehr Güte widerfahren ist. Die Frau, die eine Sünderin war, ist überwältigt vom Glück, dass ihr die Sünden, die sie so lange, so schwer bedrückt haben, vergeben sind. Mehr gibt es für die beiden nicht mehr zu gewinnen. Es ist geschehen, was sie nicht einmal erträumt hätten, darum sind sie voller Dankbarkeit.

Weil ihr vergeben ist, zeigt sie ihre Dankbarkeit, ihre Liebe.

Die Liebe ist Ausdruck der Dankbarkeit, nicht Ursache der Vergebung: „Du siehst, dass ihr vergeben ist, daran, dass sie so viel Liebe zeigt.“

Liebe Gemeinde, vielleicht ist Ihnen das jetzt auch aufgefallen, wie „evangelisch“ diese Geschichte von der Sünderin ist? Evangelisch nicht nur in dem Sinn, dass sie auch uns die frohe Botschaft vermittelt, dass wir bei Jesus Christus Vergebung unserer Sünden erlangen. Nein, sie ist sozusagen auch konfessionell „evangelisch“: Das genau ist doch die Mitte, der Kern unseres evangelischen Glaubens, dass uns Gott in Jesus Christus immer zuerst entgegenkommt. Schon bei der Taufe: „Du bist mein geliebtes Kind, mein Segen wird dich begleiten!“ – und; aus aktuellem Anlass sei daran erinnert, was bis vor ein paar Tagen hier über der Kirchentür hing: „Du sollst ein Segen sein“ –

Du sollst ein Segen sein – für dich und andere und auch für die Gesellschaft in der wir leben. Das ist mehr als christianesisch eine Wärmestube zu betreiben, das ist Hoffnung auf Vergebung und ein anderes Zusammenleben der Menschen – allen Menschen zu Gute und Gott zur Ehre.

Amen