Predigt · Nachruf auf Antje Vollmer · Pater Klaus Mertes SJ
Mein letzter Ausflug mit Antje Vollmer ging zu einem russisch-orthodoxen Kloster in der Uckermark. Es war an einem diesigen Herbsttag des vergangenen Jahres. Antje Vollmer bat mich, mit ihr zur kommen. Sie wollte ein kleines Zeichen gegen das Verstummen des Gesprächs mit Russland setzen, ein Aktivität, das ihr noch in ihrer zunehmenden Schwäche möglich blieb. Sie trauerte. Alles, wofür sie politisch ein Leben lang gekämpft hatte, hatte sich für sie spätestens mit der vom Bundeskanzler ausgerufenen „Zeitenwende“ zu einer persönlich gefühlten Niederlage gewandelt, wie sie einige Wochen später in ihrem politischen Vermächtnis schrieb, unter dem Titel „Was ich noch zu sagen hätte“ (Berliner Zeitung, 23.2.2023)
Antje Vollmer hatte ein tiefes Mißtrauen gegenüber dem Krieg in den Köpfen, gerade auch in Kriegszeiten. Sie schüttelte den Kopf über die Ausgrenzung von russischen Künstlern, wenn diese sich nicht ausdrücklich von Russlands Überfall auf die Ukraine distanzierten – als wäre es eine leichte Sache, sich in Russland öffentlich gegen den Krieg zu positionieren, den man dort nicht einmal „Krieg“ nennen darf. Sie war erschüttert darüber, dass außer ausgerechnet Viktor Orbán kein nennenswertes Staatsoberhaupt aus Europa bei der Beerdigung von Michail Gorbatschow anwesend war. „Die Einsamkeit um diesen Toten war unerträglich“, schrieb sie in ihrem Vermächtnis. Die Einsamkeit um Gorbatschow war für sie „wie ein stummes Mahnmal gigantischer europäischer Undankbarkeit“. (Berliner Zeitung, ebd.) Seine Vision von einem „europäischen Haus“ war auch ihre Vision gewesen, ihre Hoffnung für die Zeit nach 1989.
Selbstgerechter Aufarbeitungston stieß sie ab, wenn sich nun Mikrophone wie Pistolen auf die Brust von politisch Verantwortlichen der Vorkriegszeit richteten: „Geben Sie zu, dass Sie Fehler gemacht haben – ja oder nein?“ Sie war auch enttäuscht von manchen Reuebekenntnissen politischer Weggefährten. Sie protestierte gegen die Ächtung des Zweifels an der sicherheitspolitischen Wende der Ampel. Bereits im April 2022 unterzeichnete sie den Offenen Brief, in dem die Bundesregierung aufgerufen wurde, keine Waffen an die Ukraine zu liefern. Dafür erhielt sie Applaus von unwillkommener Seite und und Beziehungsabbrüche von unerwarteter Seite, die sie schmerzten. Sie nahm beides in Kauf.
Mit der sicherheitspolitischen Wende ihrer Partei haderte sie – und blieb ihr trotzdem treu. Sie saß zwischen allen Stühlen. Ihre letzte öffentliche Wortmeldung verstand sie, wie gesagt, als „Vermächtnis“: Ihr Bekenntnis zum unauflöslichen Zusammenhang von Ökologie und Pazifismus. „Wer die Welt wirklich retten will, diesen kostbaren einzigartigen wunderbaren Planeten, der muss den Hass und den Krieg gründlich verlernen. Wir haben nur diese eine Zukunftsoption.“
Doch wie lassen sich Krieg und Hass verlernen? Niemand ist immun gegen Hass. „Auch der Hass gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge. Auch der Zorn über das Unrecht macht die Stimme heiser. Ach, wir, die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit, konnten selber nicht freundlich sein.“ (Bertold Brecht). Sie blieb im Gespräch. Sie verzog sich nich in den Echoraum von Gleichgesinnten. Ihr praktische Credo lautete: „Wenn man für Versöhnung und Frieden etwas erreichen will, muss man sich mitten zwischen die verfeindeten Parteien stellen und bereit sein, die Pfeile von allen Seiten auf sich zu ziehen.“ Das war für sie der Weg aus dem Hass: Mitten im reißenden Strom der Verwerfungen stehen bleiben und Brücken bauen. Zwar kann „ich“ aus der Tatsache, dass alle den Kopf über mich schütteln, nicht schließen, dass ich auf der richtigen Seite bin. Unsicherheit und Zweifel bleiben immer – und dürfen sein. Aber Entschiedenheit darf auch sein – und muss wohl sein, gerade in Kriegszeiten.
Orientierung fand Antje Vollmer im Evangelium, in der Praxis Jesu. Der hatte die Pfeile von allen Seiten auf sich gezogen, indem er aus dem eigenen Milieu der „Gerechten“ die Grenze zum Milieu der „Sünder“ überschritten hatte, zu den Schmuddelkindern, zu denen, von denen „man“ sich fern zu halten hat. Das war sein entscheidender Beitrag zur Versöhnung. Antje Vollmers Wunsch, das russisch-orthodoxe Kloster zu besuchen, war von dieser Inspiration getragen.
Grenzen überschreiten, um an Versöhnung mitzuwirken – das war auch eine Lebenslinie von Antje Vollmer. 1985 setzte sie sich für einen Dialog mit den inhaftierten Mitgliedern der RAF ein, um die terroristische Gewalt zu beenden. Der Vorschlag löste heftige Kritik aus. Heinrich Böll, Hans Magnus Enzensberger, Kurt Scharf und andere schlossen sich ihrer Initiative an. Der Terror der RAF endete schließlich 1998 mit der Selbstauflösung. Antje Vollmer blieb an dem Thema dran und bewirkte Hafterleichterungen und Begnadigungen. Sie beschritt den dornigen Weg der deutsch-tschechischen Aussöhnung, bis 1997 die Deutsch-Tschechische Erklärung im Bundestag verabschiedet wurde. Vermintes Terrain betrat sie auch, als sie den Vorsitz des Runden Tisches Heimerziehung übernahm. Sie setzte 2010 die Einrichtung eines Fonds für die Anliegen der Betroffenen durch und erntete dafür mehr Kritik als Lob, wiederum von allen Seiten. Als sie 2011 für die Arbeit des Runden Tisches Heimerziehung geehrt wurde, gab es Proteste gegen ihre Ehrung.
Auch ihr Engagement in der Stiftung 20. Juli 1944 war von dem Impuls des Brückenbauens getragen. Sie war bewegt von der Ökumene als Folge des Widerstands gegen die Barberei. Sie schätzte sie als Frucht der „Umkehr“ im biblischen Sinne des Wortes ein. „Selbstbefreiung von Wahn und Angst ist sehr schwer, und sie ist selten“. Sie hatte kein Verständnis für nachträgliche Versuche, führende Köpfe des Widerstandes zu diskreditieren, weil viele von ihnen zunächst auch von „Wahn und Angst“ gefangen gewesen waren, aus denen sie sich erst hatten befreien müssen. Sie hatte ein waches Gespür für die intellektuellen und spirituellen Fallen eines hohen moralisierenden Tons.
Wir kamen im russisch-orthodoxen Kloster an. Dort wurden wir unter einem Zeltdach zu einer Suppe aus der Gulaschkanone eingeladen. Der Konvent bot sie am Straßenrand an, um etwas Geld zu verdienen. Das Kloster hatte in den Wochen vorher Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen und damit ein Zeichen gesetzt. Eine kleine Ausstellung über Alexander Schmorell war zu sehen: Alexander Schmorell, russisch-orthodoxes Mitglied der „Weißen Rose“. Manche hielten das alles bloß für PR-Strategie eines „russischen Außenpostens in der Uckermark“ (DIE WELT, 28.3.2023). Gemeinsam mit dem Abt betraten wir den Kirchenraum. Antje Vollmar war eine betende Frau. Ihr war bewusst, dass sie durch das Vaterunser mit dem Abt in der gemeinsamen Gotteskindschaft verbunden war, was immer man über die abgründigen Äußerungen von Patriarch Kyrill zu denken vermochte. Sie erhoffte sich von dem kleinen Zeichen des Besuchs eine Wirkung über den Besuch hinaus. Es war eine „Hoffnung wider alle Hoffnung“.
Was ist das eigentlich, eine „Hoffnung wider alle Hoffnung?“ Antje Vollmer lebte aus einer Art geschichts-theologischem Urvertrauen heraus. Sie konnte ein Leben lang bis zum Schluss versuchen, zwischen Feinden neue Saat der Verständigung zu säen, ohne zu ermüden. Wachstum und Ernte lagen nicht in ihrer Hand, nur das Aussäen. Das wusste sie. Pazifismus ohne Vertrauen auf Gott ging für sie nicht – jedenfalls nicht ein Pazifismus, der sich auf das Evangelium beruft. Pazifismus war für sie mehr als eine politische Strategie. Im Evangelium steht zu lesen, dass der Vater im Himmel“ seine Sonne aufgehen lässt über Gute und Böse und es regnen lässt über Gerechte und Ungerechte“. An diesem Satz kam Antje Vollmer nicht vorbei – und wollte auch nicht daran vorbeikommen. Sie lebte in der Entschiedenheit für Vertrauen als Grundhaltung zum Ganzen des Lebens.
Einige Wochen später, im Winter, lud mich Antje Vollmer noch einmal zu sich ein. Sie wollte sich von mir verabschieden. Es war klar, dass es bei ihr nun auf das Sterben zugehen würde. Wir sprachen über ihre letzten Wünsche. Beim Abschied war ich tief bewegt. Wir umarmten uns. Eine große, dankbare Freude kam in mir auf. Dank für das Geschenk dieser Freundschaft, Dank für diese wunderbare Freundin und Mitchristin.
In der gewaltfreien Kommunikation wird oft ein Satrz des persischen Sufi-Mystikers zitiert. Er lautet: „Es gibt einen Ort jenseits von richtig und falsch. Dort treffen wir uns.“ Diesen Ort durfte ich zusammen mit Antje Vollmer betreten – viele andere, die hier sitzen, durften es auch. Dieser Ort bleibt. Möge dieser Gottesdienst ein solcher Ort für alle hier Anwesenden sein, woher auch immer sie kommen. Danke, liebe Antje Vollmer.