Predigt · Rogate · 22. Mai 2022 · Pastor Dr. Thies Gundlach
Predigttext Ev. Gesangbuch 853
Gnade sei mit uns und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen
„Unser Abendgebet steige auf zu Dir, Gott,
und es senke sich auf uns herab Dein Erbarmen.
Dein ist der Tag, und dein ist die Nacht.
Lass wenn des Tages Schein vergeht,
das Licht Deiner Wahrheit uns leuchten.
Geleite uns zur Ruhe der Nacht
und vollende Dein Werk an uns in Ewigkeit.“ (EG 853)
Wir beten dies Gebet fast jeden Abend, manchmal auch am Telefon, wenn wir an unterschiedlichen Orten sind. Es ist zugleich ein Gute-Nacht-Kuß und ein Ausatmen vor Gott, ein Ankommen in der Welt des Überganges zur Nacht. Es ist ein Eintreten in einen Raum, den wir nicht selbst erst herstellen oder konstruieren müssen, der vor uns da ist und nach uns noch bleibt. Es ist eines der ältesten Gebete der Kirche, tausendfach schon vor uns und neben mir und – hoffentlich – auch nach uns gebetet wird. Es hat keinerlei Anspruch auf Originalität oder Individualität, sondern es ist ein Einstimmen in eine Sprache, die lange vor uns gefunden wurde als Sprache für Gott und vor Gott. Es ist eine „geliehene Frömmigkeit“, ein „sprachlicher Anzug“, den wir uns am Abend ausleihen wie ein Kleid, damit wir gut angezogen und ordentlich vorbereitet den Übergang in die Nacht antreten können. Unsere Seele kann ausatmen, weil sie im Unterschied zum Tageskampf nun nichts mehr darstellen, vorstellen, herstellen oder aufstellen muss, sondern einfach alles Lassen kann, indem sie sich unter einer „Decke der Ewigkeit“ einrichten kann.
In diesem „Abendgebet der Kirche“ steckt eine große Tiefe! Das Gebet wendet sich weder an den großen Supermann im Himmel, der doch alles wieder in Ordnung bringen möge, noch breitet das Gebet all die ganzen kleinen Alltäglichkeiten vor Gott aus, wie man es vielleicht bei kleinen Kindern tut. Es ist ein spirituelles, geistliches Gebet, dass Gott Gott sein lässt und nicht versucht, ihn einzuspannen für unsere kleinen und großen Wünsche. Denn ich gestehe, dass ich mitunter die Gebetskultur in unserer Kirche etwas unreif finde: Da wird dann mitunter von Gott erbeten, was wir Menschen selbst nicht hinkriegen, Gott wird dann doch irgendwie eine Art „Held im Himmel“, der allen Frieden, alle Gerechtigkeit erreichen möge, aber es aus irgendwelchen Gründen dann doch nicht tut. Mitunter ist mir unsere Gebetskultur zu materialistisch, zu erdig, zu vordergründig.
Natürlich gilt der Satz, den ich von meinem Doktorvater gelernt habe: „Wir sollen von Gott nicht zu klein denken!“ Aber zugleich dürfen wir den Mund auch nicht zu voll nehmen, denn wer von Gott zu viel verlangt, der hat die Enttäuschung über Gott schon quasi eingepreist. Wir können und wir sollen Gott bitten um geistliche Güter, um spirituelle Kräfte, um Augen des Herzens und Stärkung des Gewissens, aber den Weltfrieden oder globale Gerechtigkeit werden wir schon selbst herstellen müssen und das Fehlen nicht auf Gott schieben.
Deswegen ist für mich jenes uralte Abendgebet vorbildlich, weil es ganz fundamental Gott und die Seele zuordnet und gerade so verknüpft:
Unser Abendgebet steige auf zu Dir, Gott,
und es senke sich auf uns herab Dein Erbarmen.
Den Anfang bildet eine Art Ortsangabe, im doppelten Sinne: es ist Abend, die Sonne des Tages geht unter, die Schatten Innen und Außen werden länger. Am Ende kann die Seele nicht mehr alles scharf sehen und glasklar verstehen, denn der Abend ist die Zeit der Stille, des Innehaltens und des Ausklingens. Und die Bewegung ist zum Himmel hin, es steigt das Gebet auf zu Gott wie ein Geruch, wie eine Feder, wie ein Luftstrom. Die Seele wirft sich geradezu in die Höhe, um weg zu kommen von aller Erdenschwere und allem Alltäglichem. Es gilt, mit dem Gebet innerlich leicht zu werden, schwebend und aufsteigend. Allerdings gilt: Ziel des Aufsteigens ist nicht der „sky“, also der sichtbare Himmel, sondern Ziel ist der „haeven“, also der Himmel einer anderen Dimension, das Jenseits gleich neben dem Diesseits. Es ist, als stünden wir an der berühmten Himmelsleiter aus Jakobs Traum, sehen die Engel auf- und absteigen und geben ihnen gleichsam unsere Abendgebete mit, dass sie sie mit zu Gott hinauftragen in jene Sphäre, die nicht fern, sondern ganz anders ist. Denn so kommt von dort auf uns herab diese eine gütige Seelendecke, jene eine Kraft, die uns ankommen lässt bei uns selbst und gerade so bei Gott. Gottes Erbarmen senkt sic herab als Welle der inneren Akzeptanz, als Einstimmung in das eigene Leben, in die Situation, wie sie nun ist. Für einen kleinen Moment steht sein Erbarmen im Zentrum, und nicht mein Versagen, nicht mein Stolz, nicht meine Leistung, auch nicht meine Scham und Schuld, sondern seine Nähe, seine Güte, eben sein Erbarmen.
Dein ist der Tag, und dein ist die Nacht.
Es folgt das eine Bekenntnis, das wir immer und überall als Wurzel, als Grund, als Basis allen Glaubens in uns tragen: Gott ist alles in allem! Tag und Nacht sind Seins, Licht und Finsternis auch, es gibt nichts, was nicht immer auch er ist. Nichts ist, was ohne ihn sein könnte, was uns ganz trennen kann von seiner Nähe: Gott ist Tag und Nacht, Gutes und Böses, Helles und Dunkles – und mit diesem Bekenntnis mitten im Gebet weiß ich, dass es nichts Jenseitiges, nichts außerhalb seines Erbarmens und seines Lichtes geben kann. Ich bin zu Hause, weil er alles in allem ist und ich dies am Abend des Tages singen und sagen kann.
Lass wenn des Tages Schein vergeht,
das Licht Deiner Wahrheit uns leuchten.
Die Seele wendet sich der Bitte zu, der Hoffnung auf Gott, der den Ort meines Überganges in die andere Welt wahrnimmt. Der Schlaf als „des Todes Bruder“ ist Nacht für Nacht die eine ängstigende Drohung, die mit dem abnehmenden Licht sichtbar und fühlbar wird. Deswegen entsteht die Sehnsucht nach einem anderen Licht, einem Licht, das klärt und sortiert, dass uns im Gegenüber zu Gottes Wahrheit nicht verängstigt, sondern befreit. Das Licht seiner Wahrheit leuchtet jene Seiten des Herzens und der Seele an, die Anerkennung verdienen und Trost gebrauchen können. Wenn es draußen und in mir dunkler wird, macht seine Wahrheit uns hell und strahlend. Ich sehe zwar selbst nicht, was an mir leuchten könnte, aber ich weiß, dass Gottes Wahrheit an mir mehr Helles, Würdiges, Liebenswertes, Kraftvolles, Schützenswertes sieht als ich es je selbst sehen könnte. Gottes Sehen schenkt mir ein Ansehen, dass mich groß macht, nicht klein. Sein Licht lässt mich Einschlafen mit guten Gedanken, nicht weil ich so toll bin, und ich meinen Tag so glänzend bestanden habe, sondern weil ich Gottes Licht auf mir ruhen weiß, das mich heller, schöner, mutiger, dankbarer macht als alles, was ich selbst bei mir erkennen könnte.
Geleite uns zur Ruhe der Nacht
und vollende Dein Werk an uns in Ewigkeit.
Zuletzt wieder ganz im Bitten: Lass mich zur Ruhe kommen in deinem Licht, schenke mir den Frieden einer behüteten Nacht, in der auch meine inneren Dämonen und Zweifel, meine dunklen Gedanken und großen Ängste zum Schweigen kommen. Schenke mir die Ruhe der Nacht, die hoffen kann, dass es nicht die letzte Nacht ist, weil Gott noch etwas vor hat mit mir. Dieses Werk, dass er vollenden möge an uns, meint ja nicht etwa die Erfolgskarriere am nächsten Tage, sondern Gottes Werk an uns ist jener Glaube, jene unzerstörbare Zuversicht auf ihn, die bis ins Jenseits, bis über den Tod hinaus, bis in alle Ewigkeit reicht. Und angesichts meiner häufigen Zweifel an Gott, angesichts all meiner Skepsis braucht Gott vermutlich wirklich die ganze Zeit bis zur Ewigkeit, um sein Werk des Glaubens an mir zu vollenden. Aber ich weiß als letzten Klang meines Abendgebetes, das Gott dies noch vor hat mit mir, dass er mich keineswegs links oder rechts liegen lässt, sondern einen ewigen Plan verfolgt, der mich in die Freiheit der Ewigkeit führen soll.
Amen