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Predigt · 16. September 2021 · Pastor Dr. Thies Gundlach

Posted on Sep. 16, 2021 in Predigten

Klagelieder 3, 1 – 26

Gnade sei mit uns und Friede von Gott, unserem Vater, und unserem Herrn JC. Amen

Liebe Gemeinde,

der Predigttext für heute steht in den Klagelieder Jeremia und heißt so:

22 Die Güte des HERRN ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende,

23 sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.

24 Der HERR ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen.

25 Denn der HERR ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt.

26 Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des HERRN hoffen.

Das klingt alles ja sehr barmherzig und zuversichtlich, es klingt ein Vertrauen auf Gott an, dass sich wohl in die Seele des Beters einweben kann. Auf Gott zu hoffen ist laut Jeremia weder sinnlos noch unnötig, sondern gereifte Zuversicht. Denn Gott ist freundlich zu dem, der auf ihn wartet. Irgendwie ist alles gut so, erwartbar und ein Tick langweilig.

Aber, liebe Gemeinde, die Tiefe, der Schmerz, die Verzweiflung, aus der heraus diese Zuversicht auf Gott ausgesprochen wird, ist gar nicht mehr erfahrbar. Das liegt an der Begrenzung des Predigttextes auf diese wenigen Verse, wir haben eine Art Rumpftext vorgeschlagen bekommen.

Sie wissen ja vielleicht, dass die Predigttexte, die uns Pfarrer/innen Sonntag für Sonntag aufgetragen sind, seit vielen Jahren und Jahrzehnten festgelegt sind, wobei alle 7 Jahre der gleiche Text wieder dran ist, weil es 6 sog. Predigtreihen gibt. Der Sinn dieser vorgeschriebenen Reihen es ist, die Pfarrer*innen zu ermahnen, nicht nur über die jeweiligen Lieblingsstellen zu predigen; im Grunde dient die Vorschrift dem Unterhaltungsgrad der Gemeinden: sonst müssten Sie immer die gleichen Ideen hören.

Aber in unserem Fall ist die Begrenzung des Predigttextes zugleich eine Verharmlosung; denn man kann jetzt gar nicht mehr spüren und nachempfinden, aus welcher Tiefe, aus welcher existentiellen Krise Jeremia die Wende zu Gottes Treue findet. Die existentielle Wucht und die geistliche Tiefe sind verloren gegangen. Denn der Mensch, der trotz allem Gottes Treue bekennt, klagt so:

1 Ich bin der Mann, der Elend sehen muss durch die Rute seines Grimmes.

2 Er hat mich geführt und gehen lassen in die Finsternis und nicht ins Licht.

3 Er hat seine Hand gewendet gegen mich und erhebt sie gegen mich Tag für Tag.

4 Er hat mir Fleisch und Haut alt gemacht und mein Gebein zerschlagen.

5 Er hat mich ringsum eingeschlossen und mich mit Bitternis und Mühsal umgeben.

6 Er hat mich in Finsternis versetzt wie die, die längst tot sind.

7 Er hat mich ummauert, dass ich nicht herauskann, und mich in harte Fesseln gelegt.

8 Und wenn ich auch schreie und rufe, so stopft er sich die Ohren zu vor meinem Gebet.

9 Er hat meinen Weg vermauert mit Quadern und meinen Pfad zum Irrweg gemacht.

10 Er hat auf mich gelauert wie ein Bär, wie ein Löwe im Verborgenen.

11 Er lässt mich den Weg verfehlen, er hat mich zerfleischt und zunichtegemacht.

12 Er hat seinen Bogen gespannt und mich dem Pfeil zum Ziel gegeben.

13 Er hat mir seine Pfeile in die Nieren geschossen.

14 Ich bin ein Hohn für mein ganzes Volk und täglich ihr Spottlied.

15 Er hat mich mit Bitterkeit gesättigt und mit Wermut getränkt.

16 Er hat mich auf Kiesel beißen lassen, er drückte mich nieder in die Asche.

17 Meine Seele ist aus dem Frieden vertrieben; ich habe das Gute vergessen.

18 Ich sprach: Mein Ruhm und meine Hoffnung auf den HERRN sind dahin.

19 Gedenke doch, wie ich so elend und verlassen, mit Wermut und Bitterkeit getränkt bin!

Liebe Gemeinde,

was für eine gewaltige Klage! Was für kraftvolle Bilder: jeder Vers ein neuer Jammer, jeder Satz ein neuer Abgrund! Es ist ein Klang der Bitterkeit und Verzweiflung, der uns aus diesem Klagelied des Jeremia anspringen. Ich gestehe, diese biblische Sprache ist zutiefst berührend, aufschreckend, irritierend, aber auch faszinierend und staunenswert: da sitzt einer so tief im Elend und klagt, aber er klagt nicht andere an, sondern wendet sich an Gott und klagt Gott sein Leid. Denn es ist Gott, der ihn in diese tiefe Not geführt hat, es ist das Leben selbst, das ihn in diese Abgründe gestoßen hat.

Und tatsächlich – wenn man den historischen Kern dieser Klagelieder ermitteln will – ist Jeremia der vielleicht traurigste aller großen Propheten: in Israel wenige Jahre aufgetreten mit einer Umkehrbotschaft, auf die niemand gehört und die niemand geachtet hat. Jeremia ist der verzweifelte Prophet, er findet kein Gehör, obwohl er Israel ermahnt auch mit existentiellen Gesten: er heiratet eine Prostituierte, um Israels Abtrünnigkeit von Gott zu symbolisieren; er trägt jahrelang ein Joch auf den Schultern, um Israels Abhängigkeit von falschen Göttern zu illustrieren. Aber bis zuletzt hat niemand von ihm Notiz genommen – außer seine Schüler, die seine Worte aufgeschrieben haben –, er ist im Dunkel der Geschichte verloren gegangen. Man kann sich diesen verzweifelten Mann sehr gut vorstellen als Autor jener Klage, die Gottes Ferne beklagt, denn natürlich hatte auch Jeremia die Gewissheit, in Gottes Namen zu handeln. Und dann lässt ihn Gott allein, er gibt ihm „Steine zu beißen“, er mauert ihn ein und führt in Finsternis statt ins Licht usw. Was für ein verzweifeltes Lebensgefühl, was für eine tiefe Sinnlosigkeit.

Und dennoch endet diese Klage des Jeremia mit der Zuversicht

22 Die Güte des HERRN ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende,

23 sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.

24 Der HERR ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen.

25 Denn der HERR ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt.

26 Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des HERRN hoffen.

Liebe Gemeinde,

Jeremia traut Gott mehr zu als allen seinen Erfahrungen, er hofft tiefer auf Gott als sein Kummer eigentlich erlaubt. Aus seinen Erfahrungen heraus kann er eigentlich Abschied nehmen von der Hoffnung auf Gott. Aber er redet gut von Gottes Treue gegen allen Augenschein.

Im Grunde ist er damit einer der zentralen Vorläufer zu Christus, denn hier leuchtet die Urform der Klage Jesu am Kreuz auf: eine Klage an den, der gerade nicht da ist. Die Klage wendet sich an den unsichtbaren, verborgenen, stillen, schweigsamen Gott: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen“, ist der letzte Ruf Jesu am Kreuz. Auch er wendet sich an den, der ihn vordergründig gerade im Stich lässt. Es ist diese unzerstörbare Treue zu dem unsichtbaren, verborgenen Gott, die die beiden über die Jahrhunderte verbindet. Und beide zeigen eine Tiefe von Gottvertrauen, die wir nie ganz aus den Blick verlieren sollen: dass wir Gott auch dann die Treue halten, wenn er gerade nicht da ist, wenn er gerade mal nicht nützlich ist, wenn er uns nicht hilft, obwohl wir ihn doch sehr bitten.

Ich habe ehrlich gesagt immer wieder das Gefühl, viele Menschen haben im Grunde ihren Kinderglauben nie ganz überwunden: Gott soll mir doch helfen, er soll mich schützen und mir nützlich sein, und wenn er das nicht ist, dann interessiert er mich auch nicht. Manchmal erwische ich mich dabei, dass ich denke: nun werd mal erwachsen im Glauben: Gott ist kein Bedürfnisbefriediger, auch kein Supermann im Himmel, der mich und dich vor Unglück bewahren kann. Manchmal denke ich, wir haben auch als Kirche Gott zu seicht und leicht verdaulich gemacht, als den, der immer alle akzeptiert und immer alle tröstet, der ständig Segen verteilt und immer alles vergibt. Aber so einfach ist das nicht mit Gott: Gott ist fei, frei von meinen Wünschen, meinen Begierden, meinen Hoffnungen, ja selbst von meinen allerbesten Absichten und moralischen Hochleistung. Gott steht uns nicht zur Verfügung, wir können ihn nicht herbei zitieren so wie wir es gerade wollen. Martin Luther nannte das „Gott lieben und fürchten“, Furcht aber nicht als Angst oder Duckmäusertum, sondern als Respekt vor der Unverfügbarkeit Gottes. Und nur, wenn wir diese Gottesfurcht kennen und achten, können wir die Güte und Barmherzigkeit nachempfinden, die ein klagender Jeremia aufbringt, wenn er seine Klage gegen allen Augenschein beendet mit der trotzigen Zuversicht auf Gottes Güte:

Die Güte des HERRN ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.

Amen.