Predigt · 13. Sonntag nach Trinitatis · 29. August 2021 · Pfarrer Michael Hufen
1. Mose 4
Liebe Gemeinde,
ein kleines Mädchen wird von ihren Müttern zur Taufe gebracht.
Wie schön!
Und nun dieser Predigttext. Kain und Abel
Ein bisschen ist es ja, wie vielleicht für viele von Ihnen der Sonntag abläuft: morgens zur Kirche in den Gottesdienst, um ein Wort und vor allem den Segen für die neue Woche zu bekommen und am Abend dann die harte Realität: Tatort oder Polizeiruf. Die Härte und Brutalität der Welt da draußen mitten ins Wohnzimmer geholt.
Ein unschuldiges Opfer, vom eigenen Bruder ermordet und es bleiben viele Fragen. Manche guten Krimis funktionieren ja nach diesem Prinzip: Täter und Opfer sind bekannt und in 90 spannenden Minuten wird das Geflecht aus Motiven und möglichen Hintergründen, Verstrickungen, aus Neid und Missgunst, Affekten und Leidenschaften, die zu der schrecklichen Tat geführt haben aufgedröselt, aber auch versucht eine Antwort auf die Frage zu finden, wie dies Verbrechen hätte verhindert werden können und wer durch Unterlassen und Wegschauen auch Schuld auf sich geladen hat.
Liebe Gemeinde,
bei der Orgelweihe hat Bischof Stäblein über einen Text aus dem 4.Buch Mose gepredigt. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir seine Einordnung des Textes in die Geschichte Israels: er ist lange nach dem beschriebenen Ereignis aufgeschrieben, um Zukunft zu ermöglichen. Also in der Gegenwart auf die Vergangenheit schauen, um Kommendes gestalten zu können.
Ich möchte diesen Gedanken durch zwei weitere ergänzen: der Philosoph Jürgen Habermas sagte: religiöse Sprache ist eine wichtige Ressource der Sinnstiftung und auch von religiös unmusikalischen Menschen sollte sie nicht links liegen gelassen werden. Religiöse Texte, die Texte der Bibel beschreiben schon fast Vergessenes, was aber trotzdem vermisst wird.
Um diese Text wieder zu einer Ressource für viele zu machen, kommt es nun darauf an, eine Übersetzung in die Gegenwart zu finden.
Eigentlich gibt es diese Übersetzungen schon: Allgegenwärtig sind die Konflikte und Herausforderungen, die gerade in den ersten Kapitel der Bibel beschrieben werden, in unseren Familien, der Politik, als Motiv in Literatur und Musik. Allgegenwärtig sind die Erzählungen von Grenzüberschreitungen und ihren Folgen – Vertreibung aus dem Paradies, Sintflut, Turmbau zu Babel, von Konflikten zwischen und innerhalb der Generationen Jakob und Esau, Abraham und Isaak, Joseph und seine Brüder.
Die biblischen Urzeiterzählungen erzählen ja nicht Einmaliges. Sie beschreiben nur das erste Auftreten eines Gedankens, einer Tat – und sie tun es so, dass klar ist, dass es jederzeit wieder geschehen kann. Sie geben eine Antwort auf die Frage nach dem Warum und Woher, die wir eigentlich selbst finden könnten, aber es will uns dann, wenn wir es brauchen und nötig haben nicht aus uns heraus gelingen. Diese Urzeiterzählungen wollen uns helfen, mit ihrem Wissen und Wesen das Leben zu ver- und zu bestehen.
Diese Geschichten erzählen stellvertretend von uns. Vom Verhältnis des Menschen zu Gott, vom Verhältnis der Geschlechter, von Mann und Frau und in unserer Geschichte vom Verhältnis der Geschwister, der Mitmenschen.
Kain begeht seine Tat quasi stellvertretend für alle Menschen, an seinem Mitmenschen und an Gott. Das macht die Aktualität und Allgemeingültigkeit dieses Textes aus.
Und Adam erkannte sein Weib Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain und sprach: Ich habe einen Mann gewonnen mit Hilfe des Herrn. Danach gebar sie Abel, seinen Bruder. Und Abel wurde ein Schäfer, Kain aber wurde ein Ackermann.
Jenseits von Eden, nach der Vertreibung aus dem Paradies werden die ersten Kinder geboren. Und sie werden zur Arbeit geboren – Schäfer und Ackermann. Seit der Vertreibung aus dem Paradies ist klar, daß Arbeit mehr Last als Lust ist. Aber diese Aufgabe, zu arbeiten, die Welt zu bebauen und zu bewahren, müssen wir nicht allein angehen, wir haben Geschwister, Mitmenschen, die dies mit uns tun.
Und wer selber Geschwister hat, weiß, wie ambivalent dieses Verhältnis schon innerhalb einer Familie ist. Es kann Rückhalt und Unterstützung in jeder Lebenslage sein, aber auch tief eingeprägte Missgunst und blanker Neid. Geschwister kann man sich nicht aussuchen. Miteinander und Gegeneinander, Aufeinanderangewiesensein und Rivalität gibt es unter Geschwistern, aber eben auch in allen Bereichen des Lebens, da wo wir unseren Mitmenschen begegnen und mit ihnen arbeiten oder irgendwie auskommen müssen.
Schäfer und Ackermann – Arbeitsteilung, unterschiedliche Erfolge, unterschiedliche Anerkennung – schon hier wird wahrscheinlich allen klar, wie schwierig und komplex es ist, mit unseren Mitmenschen geschwisterlich umzugehen.
Es begab sich aber nach etlicher Zeit, daß Kain dem Herrn Opfer brachte von den Früchten des Feldes. Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der Herr sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an.
Erntedank, im Altertum war es das Erstlingsopfer. Und im Denken der Menschen, hat Dank für den Ertrag immer auch etwas mit Erfolg zu tun. Ein Mensch hat mehr Erfolg als ein anderer. Mit Anspannung sehen wir den Arbeitsfortschritt des Nachbarn und schauen auf die Erfolge der Gegenkandidatin im Bewerbungsverfahren. Auch wenn bei Olympia zwei Hochspringer sich den 1.Platz teilten – meistens gibt es doch Gewinner und Verlierer – und wer verliert, findet sich nicht einfach damit ab, sie hadert mit den Bewertungen und er fühlt sich auf unerklärliche Weise benachteiligt . So geht es Kain
Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick.
Dem Gegenüber nicht mehr in den Augen schauen wollen, niemanden mehr sehen. Sich ganz den eigenen finsteren Gedanken, voller Wut und Zorn hingeben. Bloß keine Signale mehr wahrnehmen, die der eigenen Raserei vielleicht noch Einhalt gebieten können.
Da sprach der Herr zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? Ist’s nicht also? Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.
Wer sich so von seinen Mitmenschen abwendet und verschließt ist zum Schlimmsten fähig, bereit die Grenzen der hohen Moral und der eigenen Werte zu verlassen.
Nun führt nicht jeder Zornesausbruch auch zur gewaltsamen Tat, noch haben wir die Chance zur Selbstbeherrschung.
Wenn die Sünde vor der Tür deines Herzens lauert und wie ein wildes Tier nach dir schnappt, dann nutze die dir verbliebene Chance und herrsche über sie!
Ist das eigentlich realistisch? Sind wir Menschen so? Die Geschichte von Kain und Abel erzählt den Fall, in dem der Mensch seiner finsteren Gedanken nicht Herr wird. Das sollte uns schon warnen, nicht allzu optimistisch und naiv von den Selbstbeherrschungsfähigkeiten des Menschen zu denken. Wir sind viel mehr Beherrschte und Getriebene, als wir uns selbst gerne sehen. Wir sind viel weniger vernünftig und vernunftgesteuert, als wir uns einbilden – ganz abgesehen davon, daß das, was sich Vernunft nennt, nicht immer vernünftige Resultate hervorbringt. Wie dünn der zivilisierte Anstrich unserer Gesellschaften ist, kann man in den Kriegen der zurückliegenden Jahre sehen. Da ruft der amerikanische Präsident „Wir werden sie jagen“, da soll vermeintlich aus Rache für einen Terroranschlag, ein von jahrelangem Krieg ausgezehrtes Land in die Demokratie gebombt werden und keine Lüge ist zu plump, um nicht mit ihr in den Krieg um Macht, Einfluss und Bodenschätze zu ziehen.
Die Geschichte von Kain und Abel zeigt uns, welche Macht der Zorn und die Gier, altmodisch gesagt: die Sünde, haben. Doch man kann dagegen ankämpfen.
Kain hat diesen Kampf gar nicht erst aufgenommen.
Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Laß uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.
Der Mord – auf die Spitze getriebene Rivalität, explosives Ende von Beziehungsrivalität und blutiger Höhepunkt von ökonomischer Rivalität. Nicht alltäglich, aber die allzuhäufige Bruchstelle des dünnen Eises unserer sogenannten Moral und unserer Werte.
Und: der Täter steht im Mittelpunkt. Das Opfer ist quasi gestaltlos: Abel steht hebräisch für HAUCH. Das Opfer ist tot, durch die Schuld eines Mitmenschen. Keine Chance auf Leben: Abel – häwäl – bloß ein Hauch, fast Nichts.
Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?
Die Frage nach der Tat, die Möglichkeit, Schuld zu bekennen, das eigenen Versagen einzuräumen. Und die Antwort Kains: ein zynische Rückfrage: braucht der Viehhüter etwa noch einen Menschenhüter?
Ganz nach dem Motte: Angriff ist die beste Verteidigung. Natürlich sollen wir gerade nicht die „Überbehüter“ unserer Mitmenschen sein, aber wir sollen sie wahrnehmen, achten und schützen. Kain war nicht der Hüter seines Bruders, er wurde sein Mörder.
Der Herr aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde.
Was hast du getan? Geradezu fassungslos wird hier gefragt. Die Frage ist eigentlich ein einziger Appell ans menschliche Gewissen. Der Appell sich der eigenen Wirklichkeit zu stellen. Und das fällt nicht nur Kain schwer. Die Folgen unseres Handelns – wollen wir sie überhaupt sehen und wenn ja, wollen und können wir dafür einstehen. Nur weil die mediale Wirklichkeit bestimmte Tatorte nicht mehr im Blick hat, werden die Taten doch nicht ungeschehen gemacht. Es gibt keinen perfekten Mord – das Blut deines Bruders schreit zu mir – und auch alle Völkerrechtsverletzungen, alle Drohnenmorde, das unendliche Leid der Zivilbevölkerungen, der Witwen und Waisen, die auf der Flucht Ertrunkenen, die Erschossenen, Gefolterten und Vergewaltigten verschwinden nicht einfach, nur weil wir den Blick senken und uns die Hände vors Gesicht schlagen und laut schreien „Taliban, Taliban“. Es bleibt unser Krieg, es bleibt unsere Verantwortung. Was haben wir getan?
Und nun: Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. Wenn du den Ackerbebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.
Wir reden gern vom Segen. Wir freuen uns, wenn das Füllhorn des Lebens über uns ausgeschüttet wird und erkennen darin den Segen Gottes. Am Ende jedes Gottesdienstes stellen wir uns unter den Segen, gerade haben wir um Gottes Segen für Milas Leben gebeten.
Vom Fluch, vom Leben unter einem Fluch reden wir nicht gern. Es ist etwas Unheimliches um den Fluch. Die Geschichten der Bibel, vor allem die des Alten Testaments, haben noch einen Blick für diese unheimliche Seite der Welt und des Lebens.
Kain ist das Urbild für den Menschen, der unter einem Fluch lebt. Fluch heißt Lebensminderung. Fluch heißt: Es ist wie verhext, es gelingt nichts. „Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden“. Für uns hat die Wirklichkeit des Fluches andere Gestalten angenommen. Es liegt nicht allzu fern, in der rastlosen Mobilität und Hektik der heutigen Lebenswelt eine moderne Variante jener unsteten und flüchtigen Existenz zu erkennen, von der die Geschichte spricht. Wir bezahlen jedenfalls für die Leistungsfähigkeit und den Wohlstand unserer Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft einen hohen Preis.
Niemand kann sich nach Afghanistan Gedanken machen über das Leben unter einem Fluch, ohne mindestens zwei Fragen zu stellen: Welche Rolle spielen ungelöste Konflikte und ungebremste wirtschaftliche wie kulturelle Hegemonie als Nährboden für Haß und Terrorismus? Und wie viele Diktatoren oder Rebellengruppen müssen sich noch als Verhängnis, als Fluch erweisen, bevor unsere Regierungen endlich aufhören, sie aus sogenannten geopolitischen Gründen zu unterstützen?
Kain aber sprach zu dem Herrn: Meine Strafe ist zu schwer, als daß ich sie tragen könnte. Siehe, du treibst mich heute vom Acker, und ich muß mich vor deinem Angesicht verbergen und muß unstet und flüchtig sein auf Erden. So wird mir’s gehen, daß mich totschlägt, wer mich findet. Aber der Herr sprach zu ihm: Nein, sondern wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden. Und der Herr machte ein Zeichen an Kain, daß ihn niemand erschlüge, der ihn fände.
Endlich ein heller Lichtstrahl in dieser Geschichte und – ich gebe es zu, aber bei dieser Geschichte ging es nicht anders – einer Predigt, die sich Zug um Zug verfinstert und unser Gemüt niedergedrückt hat. Gott überläßt Kain nicht seinem Schicksal. Er hört seine Klage. Er hält seine Hand über ihn. Dafür steht das Kainszeichen. Ist es nicht merkwürdig? Wenn heutzutage vom Kainszeichen die Rede ist, dann wird das in der Regel so verstanden, daß ein Mensch negativ abgestempelt, sozusagen gebrandmarkt ist. Aber im Sinne der biblischen Geschichte soll dieses Zeichen den Kain nicht stigmatisieren, sondern ein Hinweis sein auf jenes geheimnisvolle Schutzverhältnis, in dem Kain fortan von Gott gehalten wird. Auch sein Leben gehört noch Gott und ist von ihm nicht preisgegeben.
Nach dem Anschlag am Kabuler Flughafen sagte der amerikanische Präsident: „Wir werden nicht vergeben und wir werden sie jagen“. Der Gegner als Freiwild, ein Präsident als gottgleicher Rächer mit der Macht über Leben und Tod – wenn das die Werte sind, die wir in die so steinzeitliche Welt Afghanistans hineinbomben wollten, dann ist sozusagen der Lack endgültig ab, das dünne Eis unserer Zivilisation nicht nur zerbrochen sondern gänzlich verschwunden.
So ging Kain hinweg von dem Angesicht des Herrn und wohnte im Lande Nod, jenseits von Eden, gegen Osten.
Jenseits von Eden – flüchtig und unstet ist das Leben Kains jetzt, er muss sein Angesicht vor Gott verbergen – aber er lebt, mit dem Mal.
Ist das Kainsmal das einzige Lichtzeichen?
Am Ende bleibt bei allen schrecklichen Folgen der Tat Gottes Zusage
„So lange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht“ (8,22).
Und mehr als ein Lichtzeichen, geradezu ein anbrechender Morgen ist Gottes Verheißung an Abraham ein paar Kapitel weiter im 1.Buch Mose: „Ich will dich segnen …, und du sollst ein Segen sein …, und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden“ (12,2f).
Das ist Licht, das die Finsternis vertreibt. Das ist ein Perspektive, den Fluch den die Menschen durch ihre Grenzüberschreitungen auf sich gezogen haben, zu vertreiben.
Die Geschichte von Kain und Abel erzählt davon, wie die Menschengeschwister einander zu Rivalen und zu Mördern werden.
Ach Gott, warum hört das nicht auf? Wo bleibt die Wirkung der Segensgeschichte, die du so lange schon angefangen hast?
„O, laß dein Licht auf Erden siegen, die Macht der Finsternis erliegen und lösch der Zwietracht Glimmen aus, daß wir, die Völker und die Thronen, vereint als Brüder wieder wohnen in deines großen Vaters Haus“ (EG 14,6 Dein König kommt in niedern Hüllen).
Wie schön ist es , dass wir gerade jetzt, quasi als Merkzeichen, das Licht auf unserem Weg auch für Mila entzünden können. Und so entzünde ich ihre Taufkerze an der Osterkerze im Vertrauen darauf, dass Jesus unsere Dunkelheit erhellt und ein Licht auf unser aller Wegen ist uns sein wird.
Amen.