Predigt · Quasimodogeniti · 11. April 2021 · Pfarrer Thies Gundlach
Einführung: Quasimodogeniti = gleichsam wie neu geboren
Der Herr ist auferstanden …
Liebe Gemeinde,
nicht nur mir geht ja dieser „unendliche Maskenball“ schon auf die Nerven; deswegen brauchen wir Gegenkräfte! Und an dem ersten Sonntag nach Ostern sind wir ja alle irgendwie „Quasimodogeniti“, gleichsam neu geboren und also bereitet für Neues. Wir können neu anfangen, können raus aus allen mentalen Schützengräben von Vorwürfen und Enttäuschungen, Erwartungen und Kopfschütteln und schauen, wie man sich stimmungsmäßig neu aufstellen kann. Denn meckern kann jeder, aber Zuversicht, das ist schon eine Kunst in diesen Wochen.
Mein Vorschlag: Wir üben schon mal Dankbarkeit für die überwundene Pandemie ein! Dankbarkeit ist das Gegenmittel gegen Klage und Vorwurf, gegen Frust und Anklage. Dankbarkeit ist gleichsam das nachösterlich Neugeborene in uns selbst mitten in der Pandemie, getränkt und genährt durch die Ostererfahrung. Wir bereiten uns schon mal vor auf jenen Moment, an dem wir durch das Impfen dieses ganz uncharmant formulierte, aber dennoch so erstrebenswerte Ziel der Herdenimmunität erreicht haben. Wir üben uns in diese Dankbarbeit etwas vorlaut und vorzeitig ein, aber das ist gute, geistliche Christenpflicht als österliche Neugeborene.
Und dass uns dabei wieder einmal Rudite Livmane und ihr musikalisches Netzwerk sehr hilft, dafür bin ich dankbar; wir werden einen alten, aber glaubwürdigen Zeugen für Dankbarkeit vor und nach der Predigt hören, aber dazu später mehr.
Jetzt lassen sie uns einstimmen in den für diesen Sonntag vorgeschlagenen Psalm, den sie leise mitbeten können.
Predigt:
Gnade sei mit uns und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus.
Liebe Gemeinde,
Georg Friedrich Händel hat ja manche kleinen, wunderbaren Perlen komponiert, es gibt nicht wenige Musikprofi, die ihn für den musikalisch kreativsten Komponisten aller Zeiten halten. Und richtig ist, dass er uns Zuhörende mit eigentlich wenigen Noten in eine tief empfundene Stimmung versetzen kann: Heute in ein Gefühl der Dankbarkeit, das es durchaus mit der zentralen Befreiungsgeschichte Israel aufnehmen kann. Immerhin, das wissen wir als Christen: Israels Auszug aus Ägypten durch das rote Meer ist das Grundereignis aller Befreiung, das im jüdisch-christlichen Glaubenskanon eine fundamentale Basis bildet. Israel ist nach Generationen der Unterdrückung und Ausbeutung aus Ägypten aufgebrochen und konnte wundersamer Weise trockenen Fusses durch das Rote Meer flüchten, während die Verfolger elendig in den Wogen des Meeres ertrinken. Es ist der Archetyp von Befreiung, in ungezählten Lieder von den Gospelgesängen der Schwarzen in den elenden Baumwollplantagen bis zu den modernen Hits von Lady Gaga wird auf diese Geschichte immer wieder Bezug genommen. Und sie ist das Grundmuster aller Befreiung schon in den Erzählungen Israels selbst:
Nach meiner Erinnerung ans Studium ist der sog. Lobgesang der Prophetin Mirjam, Moses und Aarons Schwester, eines der historisch ältesten Texte im AT, was meint, dass er über Generationen mündlich weitererzählt – besser weitergesungen – wurde, bevor er Eingang in das (2. Buch Mose gefunden hat ( Ex 15, 20):
„Da nahm Mirjam, die Prophetin, Aarons Schwester, eine Pauke in die Hand, und alle Frauen folgten ihr nach. Und Mirjam sang ihnen vor: Lasst uns den Herrn singen, denn er ist hoch erhaben, Ross und Reiter hat er ins Meer gestürzt.“ (Im Hebräischen reimt sich das wie im Deutschen Herz auf Schmerz!)
Und dieser Archetyp eines Befreiungsnarrativs wird natürlich auch im NT aufgenommen, denn auch Christus war an diesen Gott der Befreiung zurückgebunden und lebte in der Gewißheit, dass dieser Gott ihn aus dem Tod errettet wie Israel aus der Unterdrückung. Und wir leben auch in unserer zivilen Geschichte von diesem Gott der Befreiung, er ist immer wieder der Bezugspunkt für Befreiungsbewegungen gewesen, von den Kolonialvölkern bis zu den Christen in Syrien oder im Irak heute.
Dankbarkeit aber ist schon im alten Israel die angemessene Reaktion auf die Befreiung vom Ägyptens Joch. Und Dankbarkeit wird in ungezählten Texten des ATs und der Psalmen besungen – bis heute in jeder Sabbatfeier. Und eben diese Dankbarkeit bekommt in meinen Ohren von Georg Friedrich Händel einen Klang, der diese Urerfahrung gleichsam anschaulich, spürbar, nacherlebbar macht.
Dabei ist der Text bei Händel schlicht, aber sprechend:
Dank sei Dir, Herr, Dank sei Dir, Herr, Du hast Dein Volk mit Dir geführt Israel hindurch das Meer!
Gott hat sein Volk durchs Meer geführt. Er hat es gleichsam mitgenommen auf seinem Weg. Gott ist nicht der große Macher, der Zaubergott, der irgendwie vom Himmel herunter die Wogen teilt, sondern Gott geht mit, er ist bei seinem Volk und holt sich gleichsam selbst nasse Füße. Er setzt sich selbst der Gefahr aus, von den Verfolgern bedroht zu werden, er ist kein Strippenzieher aus dem Jenseits, sondern ein Mitgehender, ein Wanderer in der Zeit mitten unter seinen Menschen.
Liebe Gemeinde, Sie ahnen, dass hier das Urbild auch unserer Passionsgeschichte anklingt: Gott geht mit uns – und zwar alle Wege, auch die schweren, einsamen, kummervollen. Der Mensch kann sich gar nicht so verlaufen und verlieren, dass Gott ihn nicht wiederfindet und begleitet. Das ist sozusagen der Evangeliumskern jener Befreiungserzählung und dieser Musik von Händel.
II.
Was aber macht es mit uns, wenn wir uns „wie neu geboren“ wissen, wenn wir so verwandelt und verändert aus dem Osterereignis kommen, dass wir innerlich nicht mehr klagen und bangen über die Gefahren, die Israel drohten, die Christus drohten, die auch uns immer wieder drohen, sondern wenn Dank Herz und Seele erfüllen? Dankbarkeit hat ja drei Dimensionen: Staunen, Deuten und Genießen.
Dank ist zuerst immer etwas, was nicht mit Leistung und Einsatz meiner selbst verknüpft ist, wenn ich etwas nicht erarbeitet, erworben, selbst gemacht oder hergestellt habe. Für die Dankbarkeit muss man ein Gespür haben für das Glück, das man gehabt hat. Solange wir alles nur auf uns selbst und unsere tollen Fähigkeiten beziehen, sind wir nicht dankbar, sondern stolz und eitel. Aber ein Gespür für Glück, für Zufall, für all jenes, was uns zugefallen ist, das kann man in fast jeder existentiellen Situation entwickeln:
Ob die Freundschaft gelingt und die Ehe ohne tiefe Zerwürfnisse, ob der Beruf Freude macht oder nur durchgestanden wird, ob die Kinder nahe bleiben oder sich auch jenseits der Pubertät dauernd distanzieren, ob ich von einer Krankheit ganz gefangen genommen werde oder dennoch zu lachen verstehe usw. – immer geht es auch um jenes Quentchen Glück, das ich erkenne, um dankbares Staunen zu erleben.
Natürlich kann man dies Staunen über das Gelingende für sich stehen lassen, aber als Christen verbinden wir es mit Gott, wir adressieren die Dankbarkeit, damit wir nicht in uns selbst gefangen bleiben. Gott zu danken ist nicht gleichbedeutend mit dem Gedanken, dass Gott für mein Glück zuständig und ursächlich ist, sondern dass ich das Glück und den Zufall auf ihn beziehe, dass ich ihm meine Seele öffne und Gott mitreden lassen in meinen Herzen. Und drittens: Kann ich staunen über Glück und kann ich Gott danken für eben dieses Glück, dann kann ich beides genießen und weitergeben in meinem Denken und Handeln.
Und, liebe Gemeinde, dann bin ich gewiss, dass wir auch in aller Pandemie jene Punkte dankbar ansehen und genießen können, die so leicht übersehen werden in aller genervten Pandemie-Kritik: Dass wir nach weniger als einem Jahr Pandemie wegen der gefundenen Impfstoffe jedenfalls im Prinzip wissen, dass die Pandemie aufhören wird. Dass wir vergleichsweise wenige Tote haben, dass wir überall in Deutschland ein vergleichsweise tolle medizinische Versorgung vorfinden, dass sich trotz der Dauer der Pandemie immer noch sehr viele Menschen finden, die den Kranken helfen, die Einsamen besuchen, die Sterbenden begleiten, die Kinder unterrichten und die Versorgung sicherstellen, dass die Impfgier nur ganz selten zugeschlagen hat, und dass auch die Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft im Kern ihre Sache nicht so schlecht machen, sondern zusehen, dass wir alle gemeinsam durch die Pandemie kommen. Ja, ich weiß, es gibt jetzt jede Menge Einwände, Kritik können wir alle gut, sehr gut sogar, aber heute am Sonntag Quasimodogeniti will ich mal enden mit dem anderen, dem Positiven, dem Affirmativen, dem Anerkennenden und Dankbaren. Morgen können wir dann wieder die Schwächen betonen und die Mängel benennen. Aber Sonntag ist Sonntag und Händels Musik und vielleicht sogar diese Predigt können uns jedenfalls für einen kleinen Moment wissen lassen, dass Gott auch mit uns durch die Wogen der Pandemie gehen will. Gott sei Dank und Amen.