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Predigtreihe · Lätare · 14. März · 2021 · Jes Möller

Posted on Mrz 20, 2021 in Predigten

Psalm 84

Liebe Gemeinde!

In der Predigtreihe zu den Psalmen hat Michael Hufen vor einer Woche zu Psalm 1 gepredigt und gesagt, Psalm 1 sei die Tür zu den Psalmen, aber auch zu Gott. Heute gehen wir durch die Tür hindurch in die Wohnung.

Menschen brauchen einen guten Aufenthaltsort zum Wohnen und zum Ausruhen, einen Ort, an dem sie sich wohlfühlen. Ich bin immer ein wenig neugierig, wenn ich das erste Mal in die Wohnung eines Menschen komme. Denn eine Wohnung richtet man ganz nach eigenem Geschmack ein. Hier kann jeder so sein, wie er will.

Und Gottes Wohnung? Wie wohnt der eigentlich so? Hat er überhaupt eine Wohnung in Raum und Zeit? Oder ist er nur ganz in der Transzendenz zu finden?

Liebe Gemeinde, es gibt Menschen, die erzählen uns, dass sie Gott in seiner Wohnung besucht haben. Sie berichten darüber in Psalmen, die um diese Wohnung kreisen, und sie sagen alle: seine Wohnung ist hier; im Raum der Welt. Genauer gesagt: in Jerusalem. Zionspsalmen werden diese Psalmen genannt.

Einer von ihnen ist heute Predigttext, wir haben ihn vorhin zusammen gebetet. Viele von Ihnen kennen die Eingangsverse gut „Wie lieblich sind Deine Wohnungen, Herr Zebaoth“. aus dem Deutschen Requiem von Johannes Brahms.

Der Beter des Psalms, liebe Gemeinde, berichtet wie selbstverständlich von den Wohnungen Gottes, ganz unaufgeregt. Es wirkt, als sei er schon häufiger zu Besuch gewesen, fast könnte man meinen, er geht dort ein und aus, und schnell will er auch wieder dort hin.

Er beschreibt uns in im Psalm, wie sein Weg zur Wohnung Gottes aussieht. Zunächst ein dürres Tal, dann die ersten Quellen, schließlich sorgt Regen für Feuchtig­keit, es wird fruchtbarer, eine gesegnete Landschaft beginnt. Und dann schaut man, so heißt es, den wahren Gott in Zion.

Woher kommt diese Vertrautheit, diese Ortskenntnis?

Vielleicht ganz einfach: im Psalm wird der Weg vom Jordantal hinauf nach Jerusalem beschrieben, der übliche Weg, wenn man vom See Genezareth nach Jerusalem unterwegs ist. Aus der lebensfeindlichen Wüste am Jordan geht es durch ein Tal hinauf, der Weg überwindet nach und nach 1000 Höhenmeter, die Hügel werden langsam grüner, immer freundlicher, bis man kurz hinter dem Dorf Bethanien um den letzten Hügel herumkommt und Jerusalem sieht, gleich im Vordergrund der Tempelberg, damals mit dem Tempel, heute mit dem Felsendom. Ein Pilgerweg nach Jerusalem.

Und so, wie wir die Wegbeschreibung wörtlich nehmen dürfen, so dürfen wir den Psalmbeter auch dass mit den Wohnungen Gottes wörtlich abnehmen. Wie lieblich sind Deine Wohnungen meint: wie lieblich ist der Tempel auf dem Tempelberg in Jerusalem.

Sperling und Schwalben fliegen ganz selbstverständlich zu ihrem Nest, auch das ist wörtlich zu verstehen: die Schwalben nisteten am alten Tempel und sind ein Beispiel glücklicher Geborgenheit im Heiligtum. Und wie es die Schwalbe zu ihrem Nest, so zieht es auch den Pilger zu dem Haus des Herrn. Ein einziger Tag in den Vorhöfen deines Heiligtum ist besser als 1000 andere.

Warum dürfen wir das alles ganz wörtlich nehmen? Warum ist der Psalmbeter so felsenfest davon überzeugt, dass Gott dort anwesend ist?

Weil Gott in dem Bund, den er mit Israel geschlossen hatte, seinerzeit zugesagt hatte, dass er seine Wohnung hier auf unserer Welt gewissermaßen immer in der Nähe Israels nimmt. Wie hat er zu Mose gesagt: Ich werde mitten unter den Israeliten wohnen.

Das Volk Israel baute noch in der Wüste provisorisch ein Zelt, genannt Zelt der Begegnung, ihr seht: es geht um Kommunikation zwischen Gott und seinem Volk. Später wird ein richtiges Gebäude errichtet über dem Felsen, auf dem schon Abraham Gott begegnet war.

Die Berichte im Alten Testament gehen ganz in Detail. Zwei Dinge fallen auf, die ich hervorheben möchte: Wo Gott ist, da ist seine Herrlichkeit. Und: Gott will im Dunkel wohnen, er ist unendlich und transzendent, und gleichzeitig will er sich aber in unserer Nähe aufhalten.

Nach den Maßstäben der Logik der Philosophen kann er nicht gleichzeitig unendlich und endlich sein. Doch genau dies mutet das Alte Testament uns zu. Gott ist sowohl der Deus absconditus, der unbekannte Gott, als auch der Deus revelatus, der Gott, der bei Israel wohnt und dessen Haus man sehen kann.

Liebe Gemeinde, wir sind heute an das Reden in Metaphern gewöhnt, deswegen: Hier ist es anders. Das ist keine Metapher. Gott, so der Psalmbeter, ist physisch im Tempel anwesend, er durchdringt ihn, er füllt ihn aus. Deswegen darf sich auf dem Tempelberg auch nichts Unreines aufhalten, Gottes Anwesenheit macht aus dem Ort einen heiligen Ort.

Und nach der Zerstörung des ersten Tempels und dem Aufbau des zweiten Tempels war zwar im Baulichen manches anders, aber an der Schechina, wie es im Hebräischen heißt, an der „Einwohnung“ Gottes, hatte sich nichts geändert, auch als später Herodes der Große diesen zweiten Tempel noch einmal großartig erweiterte. Mit einer gewaltiger Westmauer ließ er das Tempelbergplateau abstützen.

Liebe Gemeinde, ich finde, das hat wirklich etwas sehr Tröstendes, einen Ort zu kennen, an dem der allgegenwärtige Gott seinen Welt-Raum hat, einen Ort seiner Nähe und Gegenwart. Auf diese Weise die Weltgegenwart Gottes und die Gemeinschaft mit ihm zu erleben, das war ein großes Glück für das Volk Israel. Wie lieblich sind deine Wohnungen.

Und dann: die Katastrophe. Der Tempel wird im Jahre 70 zerstört, obwohl es doch in einem der Zionspsalmen heißt, „Wenngleich das Meer wütete und von seinem Ungestüm die Berge einfielen, dennoch soll die Stadt Gottes fein lustig bleiben mit ihren Brünnlein, da die heiligen Wohnungen des Höchsten sind“, so nach Martin Luther. Wenn wir heute einen Psalm über die Wohnung Gottes beten, kommen wir nicht vorbei an der Tatsache, dass dieses Haus völlig zerstört worden ist.

Wie sind Christen und Juden damit umgegangen, dass Gott gewissermaßen obdachlos geworden ist. Was ist nun mit der tröstenden Weltgegen­wart Gottes? Wo ist sie geblieben?

Für Christen und Juden fällt die Antwort unterschiedlich aus.

Ohne auf die Entwicklung des jüdischen Glaubens im Einzelnen einzuge­hen: aus dem Volk des Tempels wurde ein Volk der Schrift. Aus dem Tem­pel als dem Ort der Begegnung mit Gott ist die Thora geworden. Wenn sich zehn Menschen im Gebet versammeln oder die Thora studieren, ist Gott selbst anwesend, so die Rabbiner nach der völligen Zerstörung des Tempels. Gott zieht mit den Israeliten in die Diaspora.

Und so wie Gott aus dem Tempel auswandern musste, so verloren auch die Juden ihren Ort, besser gesagt: wurden vertrieben, und zwar im Laufe der Jahrhunderte immer wieder mit Gewalt von ihren Wohnorten verjagt.

Wir feiern in diesem Jahr 1700 Jahre jüdischen Lebens in Deutschland, das war auch Anlass dieser Predigtreihe, aber ganz ehrlich: ich weiß gar nicht, ob den deutschen Juden so nach Feiern zumute ist. Es waren Jahrhunderte, in denen sie heute hier, morgen da leben mussten und als ob das nicht schon schlimm genug gewesen wäre, wurde den Juden die von ihnen gar nicht gewollte Ruhelosigkeit und das Unstete sogar auch noch vorgewor­fen. Sie seien ein Volk, das, wie es hieß, „internationa­listisch“ sei, eine – so die antisemitische Verblendung – „Verschwörergemeinschaft“, die überall, wo sie lebt, die Völker ausbeutet.

Absurd, einem Obdachlosen vorzuwerfen, keine Wohnung zu haben. Und die Hetze, das blieben ja nicht nur Worte, sondern dies endete in einem bei­spiellosen verbrecherischen Massenmord.

Begonnen hat die Predigt mit der Frage: Gibt es Orte, in denen Gott wohnt? Heute lautet die Frage fast umgekehrt: Gibt es Orte der völligen Gottlosigkeit? Ja, die scheint es wohl zu geben. An besonderen Orten meinen wir zu spüren, welche Macht von der Gottlosigkeit ausgeht.

Und gerade weil man diese Frage bejahen kann, wenn man die Berichte von der Rampe, von den Gaskammern von Auschwitz kennt, gerade deshalb hat man dem jüdischen Volk wieder eine Heimat geben wollen.

Und das konnte nicht irgendwo auf der Welt sein. Der Tempel war zwar nicht mehr da, aber es gab Reste. Die große westliche Umfassungsmauer, die Herodes hatte anlegen lassen, ist erhalten geblieben. Die Rabbiner lehrten und dem jüdischen Volk leuchtete unmittelbar ein: Gott war gar

nicht komplett ausgezogen: In den Resten des Tempels, in der Klagemauer wohnte er immer noch; an der Weltgegenwart Gottes hatte sich nichts Grundsätzliches geändert.

Und so wurde ein Staat in Gebieten gegründet, in denen vorher über Jahr­hunderte das osmanische Reich geherrscht hatte und die die Türken am Ende des 1. Weltkriegs verloren hatten. Und als später israelische Soldaten im Sechs-Tage-Krieg die Klagemauer erreichten, da war endgültig das jüdische Volk zurückgekehrt, heute gehen viele hin, schreiben Gott einen Brief und stecken ihn in die Ritzen der Klagemauer. Und weil die Briefe schon damit den heiligen Gott berührt habe, werden sie irgendwann, wenn sie eingesammelt worden sind, nicht entsorgt, sondern auf dem jüdischen Friedhof begraben.

Liebe Gemeinde,

die Antwort der Christen auf die Zerstörung des Tempels war eine andere: Gott war bereits umgezogen. Er hatte schon vor Ende des Tempels eine neue Wohnung gewählt – Jesus. Und das Wort wart Fleisch und wohnte unter uns. Und auch Paulus schreibt: in ihm wohnte die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig.

Und so berichten die Evangelien: Als Jesus in den Tempel kommt, gleich nach seiner Ankunft in Jerusalem, benimmt er sich nicht wie ein Gast oder ein Pilger, sondern ganz wie ein Hausherr, er gibt sehr deutliche Ansagen, will, dass man macht, was er will. Klar: er fühlt sich ganz in seiner eigenen Wohnung.

Später wandert der Ort, an dem Gott auf dieser Welt präsent sein will, weiter. Jesus sagt, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind, da wird er mitten unter ihnen sein, und verkündigt uns: Gottes Wohnung ist jetzt die Gemeinschaft der Christen, und das ist die Kirche. Oder mit den Worten des Apostels Paulus: wir sind der Tempel des lebendigen Gottes.

Ich bin ein Ort Gottes, so hat der Theologe Jörg Zink einmal bekannt. Könnt ihr das auch für euch sagen: Ich bin ein Ort Gottes? Ja, es stimmt, durch seinen Geist hat er, der Schöpfer von Raum und Zeit, in uns Christen und in seiner Gemeinde wieder Wohnung genommen. „Wie lieblich sind deine Wohnungen.“ Versteht ihr: auch ihr seid damit gemeint. Immer wenn ich das zu euch gesagt habe, müsstet ihr eigentlich antworten, danke für das Kompliment!

Und doch finde ich dieses Konzept etwas zu vergeistigt, leuchtet mir das wortwörtliche Konzept des Predigttextes unwillkürlich auch ein. Ich glaube, Menschen können Gott sowohl in der Gemeinschaft von Christen als auch an Orten jeweils erfahrener spiritueller Stärke begegnen.

Ich bin einmal in Frankreich ein kleines Tal hinaufgefahren, ein Bächlein schlän­gelt sich durch Wiesen, ich durchquere kleine Waldgruppen, schließ­lich erscheint, ganz abgelegen, ein komplettes Zisterzienserkloster auf. Mittel­alterliche Bauten, Schönheit, die man einatmen kann. Es ist so still, dass ich sie höre, die tiefe Stille Gottes. Besondere Orte haben besondere spirituelle Kraft, das wird mir mancherorts geradezu gewahr.

Habt ihr schon einmal gespürt, dass von bestimmten Orten eine besondere spirituelle Stärke auszugehen scheint? Achtet ihr darauf, dort zum Gebet zu kommen, wo ihr meint, Gottes Nähe förmlich greifen zu können? Gott will es euch damit leichter machen. Versucht doch bewusst, euren Ort zu finden, an dem ihr sagen könnt: hier ist meine Tür! Hier ist der Ort, an dem auf mein Anklopfen mir aufgetan worden ist.

Liebe Gemeinde,

auf einen letzten Punkt will ich noch kurz sprechen kommen. Ich bin überzeugt davon, wenn wir heute über Zion sprechen, dann geht es auch um den Gott, der Israel zugesagt hat, bei seinem Volk zu wohnen. Und mit Zion ist nicht das endzeitliche Jerusalem gemeint, sondern die Stadt, so wie wir sie kennen.

Wie kann das aber sein, wenn die Stadt drei Religionen heilig ist?

Dabei denke ich zunächst, von uns Deutschen sind weiß Gott keine klugen Ratschläge gefragt. Solche Ratschläge kommen mir so vor, als würde ein Vergewaltiger seinem Opfer einige Jahre nach der Tat schon wieder kluge Ratschläge geben, wie es sich zu kleiden hat. Auch um die eigene Tat klein zu machen. Einfach unanständig.

Aber immerhin so viel: Wir haben in Deutschland mit der klaren Trennung staatlicher Hoheit von religiösen Fragen gute Erfahrungen gemacht. Der Status quo, nach dem alle Religionen ihre heiligen Orte selbst verwalten, ist grundsätzlich unabhängig von der Frage der Staatlichkeit. Und das bedeutet, wenn man realistisch ist, für die Moslems letztlich: Auch in einem Staat Israel, zu dem Jerusalem gehört, kann man den Felsendom und die Al-Aqsa-Moschee frei selbst verwalten. Religiös geprägte Orte dürfen nicht zu einem Automatismus führen, der zwangsläufig bestimmte staatliche Herrschaft nach sich zieht.

Wie auch immer: Der Friede in Jerusalem ist Aufgabe auch von uns Chris­ten in Deutschland, damit Jerusalem, die Hauptstadt des Judentums, Jeru­salem, die Stadt Gottes, die heilige Stadt dreier Religionen, eine Stadt des Friedens wird, oder, um mit Luther zu sprechen, dass Jerusalem fein lustig bleibt.

Amen.