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Predigt · 4. Advent · 20. Dezember 2020 · Pfarrer Michael Hufen

Posted on Dez 20, 2020 in Predigten

Liebe Gemeinde,

Unter einer Straßenlaterne steht ein Mann. Den Blick auf den Boden gerichtet, wandert er ein ums andere Mal um die Laterne herum. Ganz offensichtlich sucht er etwas. Nach einiger Zeit kommt zufällig ein Polizist vorbei. Er geht zu dem Mann und fragt ihn, was er denn verloren habe. Der Mann antwortet „ Meine Schlüssel“ Nun suchen beide, aber leider ohne Erfolg. Schließlich fragt der Polizist: „Sind sie sicher, dass sie den Schlüssel hier verloren haben?“ Der Mann sieht ihn erstaunt und mit großen Augen an: „Nein! Nicht hier – dort hinten. Aber da ist es viel zu dunkel zum Suchen.“

Eine Geschichte (auch) zum Schmunzeln.

Aber – wenn man denn über den offensichtlichen Witz hinausdenkt – wird man feststellen, dass in der Geschichte noch viele mehr drinsteckt.

Nicht umsonst steht sie in einem der berühmtesten Bücher zum Thema gelingende Kommunikation, das den bezeichnenden Titel „Anleitung zum Unglücklichsein“ trägt.

Wenn ich Verlorenes auf die Art des Mannes und es Polizisten suche, werde ich tatsächlich unglücklich. Ich finde keinen Schlüssel und ich helfe einem Menschen bei einer ganz offensichtlich sinnfreien Tätigkeit. Und warum? Der Mann ist zu bequem da zu suchen, wo er zwar Aussicht auf Erfolg hätte, wo es aber unkomfortabel ist. Und der Polizist wird sich ärgern, dass er sozusagen ohne klaren Auftrag gehandelt hat, er hilft, ohne genau zu wissen, ob es überhaupt sinnvoll ist.

Der Mann sagt nicht klar, wo sein Problem liegt und der zum Helfen bereite Polizist fragt nicht nach.

Ich vermute mal, dass viele von uns diese frustrierende Art von Kommunikation kennen.

Nun kann man sich vielleicht ausmalen, dass diese kurze Geschichte auch etwas mit unserer Gemeinde zu tun, ja man kann sogar darüber nachdenken, ob die Art der in der Geschichte beschriebenen Kommunikation auch etwas mit der beklagenswerten Art der Gesprächsführung zu Corona zu tun hat, aber hat sie auch ihren Ort im Gottesdienst zum 4.Advent – 4 Tage vor Weihnachten?

Ja – hat sie!

Leider

So wie der Mann unter der Laterne sind Menschen auf der Suche. Der Mann hat den Vorteil, dass er weiß was er sucht und er hat sogar noch die Ahnung, wo er eigentlich suchen sollte.

Vielen Menschen haben ein eher diffuseres, undeutliches Gefühl, daß etwas in ihrem Leben fehlt, abhanden gekommen ist. Sie wollen es wiederfinden, aber der Anstoß, dort zu suchen, wo sie tatsächlich fündig werden können, fällt ihnen schwer.

Kann man Weihnachten verlieren?

Ich denke, diese Frage kann nur jede und jeder von uns ganz für sich beantworten. Und die Antwort hat ziemlich viel damit zu tun, was Weihnachten für uns jeweils ist.

Für mich ist Weihnachten Heimat.

Heimat – Heimat ist da, wo einem die Menschen, die Tiere und Dinge freundliche entgegenkommen; Heimat ist da, wo einem die Welt vertraut ist oder vertrauenswürdig begegnet und wo das potenziell Gefährliche nicht gefährlich ist.

Heimat ist da, wo man Erfahrungen macht, die einem das Leben lebenswert machen. Heimat ist da, wo ich mich nicht fremd fühle, sondern da, wo es mir gut geht, ich einen Ort habe, an dem ich mit meinen Hoffnungen und Träumen, aber auch mit meinen Sorgen sein kann. Wo mir Traditionen und Gebräuche vertraut sind. Wo ich mich nicht dauernd erklären muss. Wo mir Gutes widerfährt und ich selber Gutes tun kann und will.

Selma Lagerlöf erzählt von dieser Mischung aus Vertrauen, Geborgenheit und Güte in ihrer Weihnachtsgeschichte:

(am 4.Advent gekürzt nacherzählt)

„Es war einmal ein Mann, der in die dunkle Nacht hinausging, um sich Feuer zu leihen. Er ging von Haus zu Haus und klopfte an. ‚Ihr lieben Leute, helft mir!‘, sagte er. ‚Mein Weib hat eben ein Kindlein geboren, und ich muss Feuer anzünden, um es und den Kleinen zu erwärmen!‘ Aber es war tiefe Nacht, sodass alle Menschen schliefen, und niemand antwortete ihm. Der Mann ging und ging. Endlich erblickte er in weiter Ferne einen Feuerschein. Da wanderte er dieser Richtung zu und sah, dass das Feuer im Freien brannte. Eine Menge weißer Schafe lag rings um das Feuer und schlief und ein alter Hirt wachte über der Herde. Als der Mann, der Feuer leihen wollte, zu den Schafen kam, sah er, dass drei große Hunde zu Füßen des Hirten ruhten und schliefen. Sie erwachten alle drei bei seinem Kommen und sperrten ihre weiten Rachen auf, als ob sie bellen wollten, aber man vernahm keinen Laut. Der Mann sah, dass sich die Haare auf ihrem Rücken sträubten, er sah, wie ihre scharfen Zähne funkelnd weiß im Feuerschein leuchteten, und wie sie auf ihn losstürzten. Er fühlte, dass einer nach seiner Hand schnappte und dass einer sich an seine Kehle hängte. Aber die Kinnladen und die Zähne, mit denen die Hunde beißen wollten, gehorchten ihnen nicht, und der Mann litt nicht den kleinsten Schaden. Nun wollte der Mann weitergehen, um das zu finden, was er brauchte. Aber die Schafe lagen so dicht nebeneinander, Rücken an Rücken, dass er nicht vorwärts kommen konnte. Da stieg der Mann auf die Rücken der Tiere und wanderte über sie hin dem Feuer zu. Und keins von den Tieren wachte auf oder regte sich.

Als der Mann fast beim Feuer angelangt war, sah der Hirt auf. Es war ein alter, mürrischer Mann, der unwirsch und hart gegen alle Menschen war. Und als er einen Fremden kommen sah, griff er nach seinem langen, spitzigen Stabe, den er in der Hand zu halten pflegte, wenn er seine Herde hütete, und warf ihn nach ihm. Und der Stab fuhr zischend gerade auf den Mann los, aber ehe er ihn traf, wich er zur Seite und sauste, an ihm vorbei, weit über das Feld.

Nun kam der Mann zu dem Hirten und sagte zu ihm: ‚Guter Freund, hilf mir und leih mir ein wenig Feuer. Mein Weib hat eben ein Kindlein geboren, und ich muss Feuer machen, um es und den Kleinen zu erwärmen.‘ Der Hirt hätte am liebsten Nein gesagt, aber als er daran dachte, dass die Hunde dem Manne nicht hatten schaden können, dass die Schafe nicht vor ihm davongelaufen waren und dass sein Stab ihn nicht fällen wollte, da wurde ihm ein wenig bange, und er wagte es nicht, dem Fremden das abzuschlagen, was er begehrte.

‚Nimm, so viel du brauchst, sagte er zu dem Manne. Aber das Feuer war beinahe ausgebrannt. Es waren keine Scheite und Zweige mehr übrig, sondern nur ein großer Gluthaufen, und der Fremde hatte weder Schaufel noch Eimer, worin er die roten Kohlen hätte tragen können. Als der Hirt dies sah, sagte er abermals: ‚Nimm, so viel du brauchst!‘ Und erfreute sich, dass der Mann kein Feuer wegtragen konnte. Aber der Mann beugte sich hinunter, holte die Kohlen mit bloßen Händen aus der Asche und legte sie in seinen Mantel. Und weder versengten die Kohlen seine Hände, als er sie berührte, noch versengten sie seinen Mantel, sondern der Mann trug sie fort, als wenn es Nüsse oder Apfel gewesen wären. Als dieser Hirt, der ein so böser, mürrischer Mann war, dies alles sah, begann er sich bei sich selbst zu wundern: Was kann dies für eine Nacht sein, wo die Hunde nicht beißen, die Schafe nicht erschrecken, die Lanze nicht tötet und das Feuer nicht brennt? Er rief den Fremden zurück und sagte zu ihm: ‚Was ist dies für eine Nacht? Und woher kommt es, dass alle Dinge dir Barmherzigkeit zeigen?‘ Da sagte der Mann: ‚Ich kann es dir nicht sagen, wenn du selber es nicht siehst.‘ Und er wollte seiner Wege gehen, um bald ein Feuer anzünden und Weib und Kind wärmen zu können. Aber da dachte der Hirt, er wolle den Mann nicht ganz aus dem Gesicht verlieren, bevor er erfahren hätte, was dies alles bedeute. Er stand auf und ging ihm nach, bis er dorthin kam, wo der Fremde daheim war. Da sah der Hirt, dass der Mann nicht einmal eine Hütte hatte, um darin zu wohnen, sondern er hatte sein Weib und sein Kind in einer Berggrotte liegen, wo es nichts gab als nackte, kalte Steinwände. Aber der Hirt dachte, dass das arme unschuldige Kindlein vielleicht dort in der Grotte erfrieren würde, und obgleich er ein harter Mann war, wurde er davon doch ergriffen und beschloss, dem Kinde zu helfen. Und er löste sein Ränzel von der Schulter und nahm daraus ein weiches, weißes Schaffell hervor. Das gab er dem fremden Manne und sagte, er möge das Kind darauf betten. Aber in demselben Augenblick, in dem er zeigte, dass auch er barmherzig sein konnte, wurden ihm die Augen geöffnet, und er sah, was er vorher nicht hatte sehen, und hörte, was er vorher nicht hatte hören können. Er sah, dass rund um ihn ein dichter Kreis von kleinen, silberbeflügelten Englein stand. Und jedes von ihnen hielt ein Saitenspiel in der Hand, und alle sangen sie mit lauter Stimme, dass in dieser Nacht der Heiland geboren wäre, der die Welt von ihren Sünden erlösen solle.

Da begriff er, warum in dieser Nacht alle Dinge so froh waren, dass sie niemand etwas zuleide tun wollten. Und nicht nur rings um den Hirten waren Engel, sondern er sah sie überall. Sie saßen in der Grotte und sie saßen auf dem Berge und sie flogen unter dem Himmel. Sie kamen in großen Scharen über den Weg gegangen, und wie sie vorbeikamen, blieben sie stehen und warfen einen Blick auf das Kind. Es herrschte eitel Jubel und Freude und Singen und Spiel, und das alles sah er in der dunklen Nacht, in der er früher nichts zu gewahren vermocht hatte. Und er wurde so froh, dass seine Augen geöffnet waren, dass er auf die Knie fiel und Gott dankte.“

Im nun zu Ende gehenden Jahr haben wir Anderes erlebt.

Corona ist Entheimatung, verändert unsere Beziehungen zu unseren Mitmenschen, in denen viele manchmal nur noch potentielle Virenträger sehen, zu denen wir Abstand halten müssen. Und wenn uns einer zu nahe kommt, werden wir nervös.

Das Virus bemächtigte sich unserer Umwelt. Diese Welt wird uns fremd.

Corona ist Entfremdung von Gewohntem und Selbstverständlichem. Sorglosigkeit und Unbefangenheit im Umgang miteinander ist selbst bei Kindern weg. Ja inzwischen muss man sogar sagen, dass Corona Menschen von sich selbst entfremdet. Zu ehemals vertrauten Menschen tuen sich Gräben auf, die kaum eine Kommunikationsbrücke neu überspannen kann. Ja man gerät mit sich selbst in Zwiespalt.

Und wer diese Entheimatung nicht akzeptieren will und kann, muss mit Denunziation rechnen oder wird ganz offiziell als gestört diffamiert. Doch darin sehen viele, genauso wie im Befolgen der Hygienevorschriften und der Maskenpflicht ihrerseits die einzige Möglichkeit, angesichts der um sich greifenden Unsicherheit wenigstens ein wenig Sicherheit zu gewinnen.

Manche entdecken sogar in dieser Zeit Heimat neu, im Auf-sich zurückgezogen-Sein, im Leben mit der Familie; andere wiederum – und ich fürchte wir werden erst im neuen Jahr sehen, wie viele – haben neben dem Gefühl auch die tatsächliche Entheimatung durch Verlust von Freunden, vertrauten Kreisen und Gruppen, des Arbeitsplatzes oder den Ruin des mühsam aufgebauten Geschäfts, Restaurants oder Betriebs zu erleiden.

Was als Ort der Sicherheit, als geschützter Ort, dessen grundsätzliche Veränderung man sich nicht vorstellen konnte, als Ort des offenen Meinungsstreits, als Ort der Vielfalt, Toleranz, Kultur, als Ort der Gemeinschaft erlebt wurde – das gibt es nicht mehr. Und unter welchen Umständen, dies alles wieder sein kann – ich weiß es nicht.

Ganz anders als bei Selms Lagerlöf zeichnet sich aber unser Umgang miteinander dadurch aus, dass die Lanzen, die wir hin und her werfen, treffen; die losgelassenen Hunde, tatsächlich verletzen und das Feuer der Kohlen, wirklich verbrennt.

Und nun wird es Weihnachten. Schon seit bald 2000 Jahren immer wieder.

Der Stern steht über der Krippe und niemand kann ihn seinem Nachbarn zum Trotz herunterschießen.

Das Kind in der Krippe – ein Junge, auch wenn es Ideologien gibt, die einfach mal so behaupten, das sei nicht so sicher – auch das ist für mich ein Schritt zur Entheimatung, der in sich selbst aber keine neue Heimat und Geborgenheit trägt, sondern einfach nur zerstört; – ist der Sohn Marias – Jesus kommt in diese Welt, um uns die Augen zu öffnen.

Immer wieder, weil es immer wieder nötig ist. Er sucht uns da, wo es nicht hell erleuchtet ist. Erst wenn er zu uns kommt, wird es hell in unserem Leben.

Bei Selma Lagerlöf erzählt die Großmutter ihrem Enkel diese Weihnachtsgeschichte. Am Ende seufzte sie und sagte: „Aber was der Hirte sah, das könnten wir auch sehen, denn die Engel fliegen in jeder Weihnachtsnacht unter dem Himmel, wenn wir sie nur zu gewahren vermögen.“ Und dann legte Großmutter ihre Hand auf meinen Kopf und sagte: „Dies sollst du dir merken, denn es ist so wahr, wie dass ich dich sehe und du mich siehst. Nicht auf Lichter und Lampen kommt es an, und es liegt nicht an Mond und Sonne, sondern was Not tut, ist, dass wir Augen haben, die Gottes Herrlichkeit sehen können.“ AMEN