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Predigt · Letzter Sonntag nach Epiphanias · 27. Januar 2019 · Pfarrer Michael Hufen

Posted on Feb 1, 2019 in Predigten

Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus

Kohelet 7, 15 – 18

Drei Worte von Elie Wiesel (1.Lesung im Gottesdienst)


Nach Auschwitz haben die Worte ihre Unschuld verloren, Nach
Treblinka ist Stille gefüllt mit neuer Bedeutung … Des Menschen
Verhältnis zu seinem Schöpfer, auch zur Gesellschaft, zur Politik, zur
Kunst, zu den Mitmenschen und zu sich selbst muss neu infrage
gestellt werden. Jenes Geschehen beraubte den Menschen all seiner
Masken.


Kein Zufall war es, sagte ich mir, dass die erste Frage in der Bibel die
Frage Gottes zu Adam war: “Wo bist Du?“ – Was? Rief einmal ein
großer chassidischer Meister, Gott wusste nicht, wo sich Adam
befand? Nein, so darf man die Frage nicht stellen. Got wusste es,
Adam aber nicht. Deshalb muss der Mensch immer danach trachten,
dachte ich, seine Rolle in der Welt zu kennen, seinen Platz in der
Geschichte. Seine Aufgabe ist es, sich jeden Tag die Frage zu stellen:
Wo stehe ich im Hinblick auf Gott und den Nächsten?


Jeder Tod hinterlässt eine Schürfwunde, und jedesmal, wenn ein
Kind vor Freude lacht, vernarbt sie.


Predigt Kohelet 7,15-18


Liebe Gemeinde


Heute vor 74 Jahren befreiten sowjetische Soldaten das
Konzentrationslager Auschwitz.
In den Morgenstunden erreichen sie das Lager Monowitz und die
riesigen Chemiefabriken. Darauf waren sie vorbereitet – sie
wussten von der kriegswichtigen Produktion der IG Farben –
diesem Zusammenschluss von Höchst, Bayer, BASF und anderen
Chemiefirmen, die ihren heutigen Reichtum auch der Ausbeutung
zehntausender Sklavenarbeiter in den KZ verdanken.
Die Rotarmisten ahnten nach der Befreiung des KZ Majdanek im
Sommer 1944 auch, was in den Lagern passiert – was sie in
Auschwitz sahen, übertraf ihre Vorstellungskraft.
6 Kilometer weiter erreichen sie das Lager Auschwitz und die Stadt
Oswiecim und später das Vernichtungslager Birkenau. Diesen
riesigen Komplex aus Baracken und 4 Gaskammern. Leichen, die
überall herumlagen, Kranke, die dringend medizinische Hilfe
brauchten und kleine Kinder, die sich über das Erscheinen der
Soldaten freuten.
Auschwitz – dieser Name ist zum Synomym für die Ermordung der
Juden Europas geworden, den Holocaust, die Shoa.
Hier wurden zwischen 1940 und 1945 weit über eine Million
Menschen ermordet.


„Sei nicht allzu gerecht, sei nicht allzu weise“
So heißt es im Predigttext aus dem Buch Prediger – Kohelet.
Kohelet hat alles gesehen unter der Sonne – es gibt viel zu sehen,
viel zu wollen, aber nichts zu machen.
Kohelet stürzt schon 2500 Jahre vor der Shoa alles um , was für
Israel bleibende Sicherheit geben sollte, Orientierung und
klassischen Lebenssinn: Der Gerechte krepiert und der Frevler
triumphiert. Der für die Geschichten der Bibel so grundlegende
Zusammenhang von Tun und Ergehen – bei Kohelet einfach dahin.


„Sei nicht allzu gerecht und allzu weise“

Das Buch Kohelet ist im jüdischen Festjahr Sukkot – dem
Laubhüttenfest zugeordnet.
Der Erinnerung an das unterwegs sein des Gottesvolkes, das
Wohnen in den Hütten, durch die der Wind geht und die Sterne
blinken. Unstetig, unvollendet ist der Weg.
„ Es ist dir nicht aufgegeben das Werk zu vollenden; und es ist dir
nicht erlaubt davon abzulassen“ so rät der Rabbi Tarphon.
Wir sollen um die Flüchtigkeit unseres Handels wissen, aber vom
Handeln nicht ablassen.


Es heißt nach Auschwitz kann Theologie, Kunst, Literatur – Politik
und Recht nicht mehr lückenlos an die Zeit davor anschließen. Es
braucht neue Formen um das „unsagbar“ und „unvorstellbar“
Genannte der Verbrechen der Nationalsozialisten, der Deutschen
zu zeigen und einzuordnen.
Wenn im Blick auf Auschwitz, das beziehungslose Todesgeschick
der Millionen Opfer das was man gemeinhin als Sinn des Lebens
darstellt, als absurd erkennbar macht, verdichtet sich der Sinn des
Lebens darauf, es zu leben, ihm Gestalt zu geben und darin „klug“
zu werden, hat doch der Schöpfer auch die Ewigkeit in das Herz
der Menschen gelegt.


„Nicht allzu weise und gerecht sein.“
Mit unserer Weisheit kommen wir schon schnell ans Ende, wenn
wir Worte suchen, um die Verbrechen der Nazis, das Grauen der
Vernichtung und das Leiden der Opfer zu benennen.
Ganz deutsch ist dann vom größten Menschheitsverbrechen die
Rede und man redet mit Worten, die häufig die Vorsilbe „un-
„ haben, unendlich, unsäglich, unvorstellbar, unglaublich – so redet
man über Dinge und Vorgänge, die mit einem selbst nichts zu tun
haben.


Es sind Wort, mit denen wir einordnen, relativieren, urteilen,
verschweigen, mit denen wir in der Erinnerung an geschehenes
Unrecht neues Unrecht ermöglichen und tolerieren.
In der „Gespenstergeschichte“ von Ruth Klüger – einer jüdischen
Auschwitzüberlebenden – können wir etwas über unsere Sprache
und der mit ihr verbundenen Erinnerungskultur lesen:


In einen Hörsaal kommt der Geist eines der vielen Erschlagenen,
angezogen von dem Thema, erfreut, dass seiner gedacht wird. Er
setzt sich auf das Podium vorne hin, lässt die Beine baumeln, wie die
Demonstranten auf der Berliner Mauer. Das Publikum starrt ihn mit
glasigen Augen an, ohne ihn zu sehen. Der oder die Vortragende
spricht von Unsäglichem, Unvorstellbaren, vom Unaussprechlichen.
Das Gespenst fragt sich, warum der an ihm verübte Mord unsäglich
ist. Es gäbe doch ein deutsches Wort dafür: Genickschuss. Und
warum unvorstellbar, wenn es doch keineswegs ein Mysterium war,
sondern eine blutige Sauerei, am hellichten Tag.


Das Gespenst merkt langsam, dass von ihm gar nicht die Rede ist,
sondern von der Erschütterung des Sprechers, der seine Fähigkeit
zum Mitgefühl dem Publikum zur Schau stellt. Und während vom
Pult her die Rede ist von der teuflischen Umnachtung der Mörder,
denkt das Gespenst an seinen sonnenhellen Todestag und an die
Schützen, die ganz gewöhnlich und keine Dämonen waren.
Ich denke mir, dass mein Gespenst langsam merkt, dass das
Publikum es mit glasigen Augen anstarrt, ohne es zu sehen. Es gibt
eben nicht viele Geisterseher.
Aber einer sieht es doch, ein gepflegter Herr, Jahrgang 1920, der in
der hintersten Reihe sitzt, einer der damaligen Schützen, der sieht
ihn.


Als das Gespenst merkt, dass von ihm gar nicht die Rede ist, verlässt es den Saal.

Wie geht Erinnerung?
Auch wenn heute der Tag ist, an dem 1945 Auschwitz durch die
Rote Armee befreit wurde, erinnern wir uns an alle Opfer der
nationalsozialistischen Schreckensherrschaft, an alle Opfer des
vom 1. Tag an verbrecherischen Rasse- und
Weltanschauungskriegs.
Wir erinnern uns an mehr als 50 Millionen Menschen die im 2.WK
ihr Leben verloren. Jedes Opfer ein zerstörtes Leben.
Jeder Verlust tatsächlich nicht annähernd zu beschreiben.
Wir denken an 27 Millionen Menschen aus der Sowjetunion, etwa
6 Millionen Polen, über 6 Millionen Deutsche, etwa 1,5 Millionen
Jugoslawen und 1 Millionen Ungarn – wir denken an etwa 6
Millionen Juden aus allen Ländern Europas.
Erinnerung heute geht nicht ohne Empathie und Verantwortung
für die Menschen aller Völker und Gruppen, die in deutschen
Namen entrechtet, gefoltert, vertrieben und getötet wurden.
Unsere Erfahrung sollte uns davor bewahren, mit übergroßer
Weisheit einige der Opfergruppen aus dem gemeinsamen
Gedenken wegzudenken.


Elie Wiesel hat gesagt „Jenes Geschehen beraubt den Menschen all
seiner Masken“.
Wie ist es um unsere Empathie mit den Opfer bestellt? – Empathie
ist nicht nur eine Übung mit der man seine Fähigkeit zum
Mitgefühl zur Schau stellt – wie es bei Ruth Klüger heißt. Empathie
ist Ausdruck einer tiefen inneren Bewegung, bleibt nicht beim
äußerlich erkennbaren Akt der Betroffenheit stehen, sondern
wendet sich tatsächlich dem Menschen zu. Und fragt auch nach
meiner Verantwortung – menschlich, historisch, politisch.


„Wo bist du Adam?“ – wissen wir es heute wo wir stehen?
Manchmal denke ich, dass wir, wenn wir uns wirklich erinnern,
wenn wir uns gerade machen, Rückgrat zeigen, dann bliebe es
nicht nur bei den Gedenkfeiern, dann wäre wirklich der Weg zu
Versöhnung und Frieden möglich.


„Wo stehe ich im Hinblick auf Gott und den Nächsten?“
Bei denen, die schon immer auf der richtigen Seite standen, die
wissen was gerecht und ungerecht ist, die ihrer Weisheit und ihren
Argumenten vertrauen oder bei denen die suchen, fragen,
unterwegs sind, die streiten und an den Verhältnissen zweifeln und
leiden und dann doch sagen können:
Unsere Hilfe kommt von ihm her, der Himmel und Erde gemacht
hat.
Amen