Predigt · Palmarum · 25. April 2018 · Pfarrerin Margareta Trende
Jesaja 50, 4 – 9
Liebe Gemeinde,
Wie sind Sie heute geweckt worden?
Durch einen Wecker, weil die Nacht eine
Stunde kürzer war?
Von einem vorbeifahrendem Auto oder einem
landenden Flugzeug?
Oder vielleicht doch vom Gesang der Vögel
oder einem Lied aus dem Radio?
Ein Lied, in dem es auch um das Aufwecken,
genauer: um das aufgeweckte Ohr geht, steht
heute im Mittelpunkt der Predigt. Es ist
ein Gottesknechtslied.
Der sogenannte zweite Jesaja singt es. Dieser
Jesaja lebt mit dem Volk Israel im
Exil, fernab der Heimat. Immer wieder versucht
er sein Volk zu trösten und die Hoffnung
auf die Rückkehr nach Israel wachzuhalten.
Doch das Volk ist resigniert. Es
wendet seinen Ärger und seine Ängste gegen
den Propheten selbst. Das Lied erzählt von
den Erfahrungen des Propheten.
Da es ein Lied ist, müsste ich es Ihnen eigentlich
vorsingen. Doch die Melodie ist
nicht mehr bekannt, so hören Sie die gelesenen
Worte aus dem 50. Kapitel des Buches
Jesaja:
Gott der HERR hat mir eine Zunge gegeben,
wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit
den Müden zu rechter Zeit zu reden. Alle
Morgen weckt er mir das Ohr, dass ich höre,
wie Jünger hören. Gott der HERR hat mir das
Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam
und weiche nicht zurück. Ich bot meinen Rücken
dar denen, die mich schlugen, und meine
Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht
verbarg ich nicht vor Schmach und
Speichel. Aber Gott der HERR hilft mir,
darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab
ich mein Angesicht hart gemacht wie einen
Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht
zuschanden werde. Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten?
Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein
Recht anfechten? Der komme her zu mir!
Siehe, Gott der HERR hilft mir; wer will
mich verdammen? Siehe, sie alle werden wie
Kleider zerfallen, die die Motten fressen.
Welche Melodie könnte diese Worte begleiten?
Vielleicht würden wir es in Moll beginnen
und in Dur enden lassen?
Deutlich wird: Treue und Hoffnung, Leiden
und der Glauben, vor Gott im Recht zu sein,
sind die Grundakkorde dieses Liedes.
Zu Beginn der Karwoche hören wir dieses
Glaubenslied. Es ist das Glaubenszeugnis
eines Propheten, der das Leben und der seiner
Mitmenschen in ihrer ganzen Abgründigkeit
kennen gelernt hat. Die christliche
Tradition hat früh schon in diesem Gottesknecht
das prophetische Bild des leidenden
Christus gesehen.
Am Anfang des Liedes steht die Erfahrung
des Propheten, dass Gott ihm eine Zunge geschenkt
hat. Eine Zunge, die mit den Müden
zur rechten Zeit reden kann. Müde sind
nicht die, die einfach mal zu wenig Schlaf
bekommen haben. Müde sind diejenigen, die
an ihrem Leben oder an Sorgen, die ihnen
den Schlaf rauben, müde geworden sind. Die
rechte Zeit ist da, wo das Reden mit den
Müden tröstet und im besten Fall helfen
kann.
Davon erzählt eine Begebenheit aus der Nähe
von London.
Ein paar Kilometer vor London arbeitet eine
Dachdeckerfirma an einem Haus. Als die Mitarbeiter
eines Morgens auf dem Weg sind,
sehen sie einen Obdachlosen auf einer Bank
liegen. Der Geschäftsführer der Firma
spricht den Obdachlosen an, fragt nach seinem
Namen und ob er ihnen an diesem Tag bei
der Arbeit helfen könne. Der obdachlose
John sagt sofort zu und arbeitet „pünktlich
und fleißig“, wie es heißt. Mittags bringt
der Geschäftsführer ihm Essen, abends sagt er über ihn: „Er arbeitete ohne Pause, ich
habe noch nie jemanden so glücklich bei der
Arbeit gesehen.“
Als es um die Entlohnung geht, erbittet
John 15 Pfund, etwa 17 Euro, das würde ihn
durch die Woche bringen. Die Kollegen in
der Firma lassen ein wenig sammeln, sodass
John am Abend etwa 80 Euro erhält. Der Geschäftsführer
ist gerührt. Er sagt: „Seine
Dankbarkeit hat uns die Augen geöffnet.“
Dann sagt er: „Weiter so, John. Niemand,
der arbeiten möchte, sollte auf der Straße
leben.“
Ja, liebe Gemeinde, wer selbst als Müder
angesprochen wird, erfährt sich als Mensch,
der mehr ist als seine Obdachlosigkeit oder
sein Leid, seine Situation als Flüchtling
oder Arbeitsloser, mehr als ein kranker
oder alter Mensch.
Der Gottesknecht besingt neben der Wohltat
zur rechten Zeit reden zu können genauso
auch von Gott früh am Morgen ein aufgewecktes
Ohr geschenkt bekommen zu haben. Ein
offenes Ohr so wie es ein wissbegieriger
Schüler oder eine aufgeschlossene, neugierige
Schülerin hat, wenn es darum geht etwas
Neues zu hören.
Dass wir den Tag als Menschen beginnen, die
auf Gottes Wort hören, ist nicht so selbstverständlich.
Was strömt nicht alles auf
uns ein, wenn wir zum Beispiel frühmorgens
das Radio anschalten. Wir können uns manchmal
gar nicht retten vor den Katastrophennachrichten,
die zu unserem Tagesbeginn
schon fast dazu gehören wie der Morgenkaffee.
Wie gut tut es da, wenigstens hin und wieder
den Tag etwas stiller, vielleicht mit
einem Wort der Herrnhuter Losungen zu beginnen
und hin zu hören, sich einfach in
den Klangraum und die Tradition der alten
Worte zu stellen
Auch erleben wir es als Geschenk, wenn andere
uns zu hören, sich Zeit nehmen und an dem Gehörten Anteil nehmen. Oft braucht es nicht vielmehr!
In der Arbeit mit Flüchtlingen in unserer
Gemeinde fällt uns das oft auf. Wenn
Flüchtlinge, die ein Kirchenasyl suchen,
bei uns anklopfen und uns ihre Geschichten
erzählen.
Neulich sagte zu mir eine Frau aus Afghanistan
„Bei euch habe ich zum ersten Mal
seit langem wieder von meinem Zuhause erzählt,
wie es war und was es auch Gutes
dort gab. Sonst muss ich immer nur erzählen,
wann ich wo auf meinem Fluchtweg gewesen
bin.“
Wie dankbar machen solche Erfahrungen – auf
beiden Seiten!
Dankbarkeit erfährt der Gottesknecht nicht.
Im Gegenteil Er schreibt: „Ich bot meinen
Rücken dar, denen die mich schlugen und
meine Wangen, denen die mich rauften…“ Anfeindungen
erlebt der Gottesknecht. Er leidet
und teilt damit Erfahrungen, die Menschen
immer wieder machen.
Egal ob es körperliche oder seelische Leiden
sind: Wenn wir Menschen in unseren persönlichen
Karwochen stecken, dann ist uns
manchmal der Blick auf das Osterlich versperrt.
Doch was hilft dem Gottesknecht in seiner
Not und seinem Leiden nicht zu zerbrechen?
Er sagt Aber Gott der HERR hilft mir, darum
werde ich nicht zuschanden….Er ist nahe,
der mich gerecht spricht;
Sein tiefes Gottvertrauen hilft ihm. Die
Gewissheit, dass wenn alles gegen ihn zu
sprechen scheint, Gottes Liebe und seine
Gerechtigkeit für ihn spricht.
Das Leiden ist dadurch nicht weniger stark,
aber es ist für ihn leichter zu tragen,
weil er sich von Gott getragen und gerecht gesprochen weiss.
Das kann auch uns helfen, wenn wir am Ende
unserer Kräfte sind, dass wir auf Gottes
Stärke seiner Liebe vertrauen
Und wenn wir meinen in einer Sackgasse unseres
Lebens fest zu stecken, darauf zu
hoffen, dass Gott uns neue Wege eröffnet.
Die ersten Christen haben das Leiden, Sterben
und Jesu Auferstehung auf dem Hintergrund
dieses Gottesknechtliedes verstanden.
Sie sahen im Gottesknecht Jesus von Nazareth,
der nicht nur seine Wange hinhält,
sondern sein Leben gibt, damit er seinem
gewaltlosen Weg der Liebe treu bleibt.
Die ersten Christen sahen im Gottesknecht
Jesus Christus, der durch die Auferweckung
von den Toten von Gott ins Recht gesetzt
wird.
Wir hören heute das Gottesknechtslied, damit
wir auch in der vor uns liegenden Karwoche
den Trost für die Müden nicht vergessen
und das Ohr für die Worte, die uns gut
tun, offen halten.
Eine Melodie dazu kennen wir nicht aber ein
Lied, das sich stark an die Worte des Propheten
anlehnt.
„Er weckt mich alle Morgen, er weckt mir
selbst das Ohr…“ hat Jochen Klepper in der
Karwoche 1938 gedichtet. Trotz aller Bedrängnis
hält er an der Überzeugung fest:
Gott ist nah und Gott ist da.
Diese Melodie, seine Worte können uns wie
die Worte des Gottesknechtsliedes bergen
und wie ein Mantel umhüllen. Sie lassen uns
in der vor uns liegenden Karwoche ahnen,
dass uns am Ende dieser Woche das Licht des Ostermorgens begrüßt.
Amen