Predigt · Reformationstag · 31. Oktober 2016 · Pfarrerin Ruth Misselwitz
Römer 3, 21 – 28
Liebe Schwestern und Brüder,
mit dem heutigen Tag gehen wir in das 500. Jahr der Reformation.
Seit einigen Jahren schon werden wir auf das Jubiläum im nächsten
Jahr am 31.10.2017 vorbereitet.
Der Kirchentag im Mai nächsten Jahres steht unter diesem Thema
und er wird seinen Abschluss haben in Wittenberg,
der Stadt, in der Martin Luther lebte und wirkte
und seine 95 Thesen an die Schlosskirche zu Wittenberg schlug.
Unzählige Sendungen, Artikel und Bücher erscheinen seit einiger
Zeit zu diesem Thema.
Die Reformation hat die Kirche und Europa verändert.
Auf der einen Seite betonen wir Protestanten stets den Zugewinn von
Freiheit, Eigenverantwortlichkeit und Vernunft –
in Form von Aufklärung und Wissenschaftlichkeit,
und den Gewinn einer wunderbaren Kirchenmusik, wie sie z.B. J.S.
Bach uns überliefert hat,
auf der anderen Seite hat sie die christliche Kirche tief gespalten –
eine Spaltung, die zu Zerwürfnissen im privaten wie im öffentlichen
Bereich führte,
blutige Kriege zur Folge hatte und unzählige Menschenopfer kostete.
Bis auf den heutigen Tag ist diese Spaltung nicht überwunden –
500 Jahre danach.
Trotz unzähliger Versuche ist ein gemeinsames Abendmahl immer
noch nicht möglich.
Die Anerkennung als christliche Kirche ist den Protestantischen
Kirchen von Rom über Jahrhunderte verwehrt worden.
Erbitterte Kämpfe um Macht- und Einflussbereiche prägten das
Verhältnis der beiden großen Konfessionen zueinander.
Aber auch innerhalb der protestantischen Kirchen kam es immer
wieder zu Spaltungen und Abgrenzungen,
kam es zu fragwürdigen Bündnissen mit der Macht,
zu unheiligen Allianzen zwischen Thron und Altar.
Eines der schmachvollsten Abschnitte war wohl die Zeit im Dritten
Reich, in der sich die Evangelische Kirche in der überwiegenden
Mehrheit sich den völkischen und rassistischen Parolen nicht nur
anschloss, sondern sie auch tatkräftig unterstützte.
Nur ein kleines Grüppchen versuchte in der Bekennenden Kirche,
sich dieser Ideologie zu entziehen.
In unserer Gemeinde gab es Anfang der dreißiger Jahre solch einen
erbitterten Kirchenkampf zwischen BK und DC.
Mit allem Respekt und in Anbetracht der Tatsachen,
muss man aber auch zugestehen, dass die katholische Kirche in
Deutschland, sich dieser Ideologie mehr entziehen konnte,
es gab zumindest sehr viel weniger Priester als Mitglieder in der
NSDAP als es evangelische Pfarrer gab.
Warum aber muss ich ausgerechnet an solch einem Feiertag auf die
wunden Punkte lenken, anstatt stolz und fröhlich auf die Erfolge
hinzuweisen?
Wir hörten vorhin in unserem Predigttext, die Worte von dem Apostel
Paulus: „Denn es ist hier kein Unterschied: sie sind allesamt Sünder
und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten. …… Wo
bleibt nun das Rühmen? Es ist ausgeschlossen.“
Paulus verwirft im Predigttext wie an vielen anderen Stellen seiner
Briefe das „Rühmen“.
Es geht ihm dabei sowohl um das individuelle Rühmen des einzelnen
über persönliche Verdienste wie z.B. einer besonderen Frömmigkeit
oder eines gerechten Lebenswandels,
als auch um das kollektive Rühmen einer Gruppe, einer
Gemeinschaft, die sich besonders begnadet oder bevorzugt wähnt und
infolgedessen besondere Rechte für sich geltend macht.
Diese Gefahr besteht in jeder Religion und Paulus sah sie auch schon
in den ersten christlichen Gemeinden
Diese Gefahr versuchte er leidenschaftlich zu bekämpfen.
Das kollektive Rühmen und das Festhalten an den Grenzen von
Nation und Religion,
das Sichberufen auf persönliche Verdienste und das Herabsehen auf
andere aus diesem Dünkel heraus –
das alles hat er als zutiefst gottlos erlebt.
Die Erfahrung des Aufbrechens und Überwindens dieser religiösen
und nationalen Grenzen markiert daher das Grunddatum seiner
Bekehrung:
Juden und Griechen, Sklaven und Freie, Frauen und Männer,
Fromme und Heiden – sie alle versammelten sich in den paulinischen
Gemeinden zu dem einen Leib Christi.
So wurde das Überwinden von Grenzen geradezu kennzeichnend für
die Gemeinden und für Paulus.
Wie kein anderer hat er dafür gestritten, zwischen Juden und Heiden
keinen Unterschied zu machen.
Dass er damit nicht überall Erfolg hatte, wissen wir aus seinen
Briefen und aus der darauffolgenden 2000-jährigen
Kirchengeschichte.
Die grundsätzliche Erkenntnis aber, die er daraus gezogen hat,
ist sein Widerwillen gegen das Rühmen.
„Alle haben gesündigt“ betont er immer wieder und meint damit
auch sich selbst.
Auch Paulus weiß um seine eigenen Grenzen, um seine Ängste und
Vorurteile.
Er selbst, wie auch das junge Christentum, war nicht gefeit gegen das
Aufrichten neuer Grenzen.
Schon bald gab es Spaltungen und Parteiungen in den jungen
christlichen Gemeinden, die sich erbittert gegenseitig bekämpften.
Und das zieht sich leider durch die ganz Kirchengeschichte hindurch.
Auch die evangelische Kirche – geboren aus dem Widerstand gegen
die engen Grenzen der katholischen Kirche , errichte sobald neue:
gegen die Bauern, gegen die Täufer, gegen die Hexen, gegen die
Juden.
Das sind die Opfer, die zu unserer Kirche gehören – ihrer sollte am
Reformationstag auch gedacht werden.
Gott ist der Gott der Juden und der Völker – er ist der Gott aller
Menschen.
Keine Kirche, keine Konfession, keine Religion verwaltet die
Beziehung zu Gott.
Keine ist allein im Besitz der Wahrheit. Die Wahrheit liegt wohl
vielmehr in der Vielfalt, im Zusammenkommen vieler verschiedener
Elemente.
Heute im Zeitalter des Terrors, der sich über die ganze Welt ausbreitet
und unfassbares Leid verursacht, ist es besonders wichtig, darauf
hinzuweisen.
Wieder einmal werden Religionen für Kämpfe um Macht- und
Einflussbereiche missbraucht.
Junge Menschen werden radikalisiert, um im Namen Gottes gegen
das „Böse“ zu kämpfen.
„Alle haben gesündigt und mangeln des Ruhmes, die sie bei Gott
haben sollten“
Wir werden nicht gerecht vor Gott mit guten Taten oder Leistungen.
Wir können uns nicht das Himmelreich verdienen, wenn wir unser
Leben oder das der anderen opfern.
Allein der Glaube hilft aus diesem Dilemma –
der Glaube an einen Gott, der uns bedingungslos liebt,
der uns so annimmt, wie wir sind,
der Glaube an einen Gott, der das Leben und nicht den Tod für uns
will.
Und der uns deshalb zur Umkehr ruft,
den Weg des Todes zu verlassen und den Weg des Leben
einzuschlagen.
Reformation 500 Jahre nach Luther bedeutet deshalb auch,
die Spaltungen zu überwinden nicht nur in unserer eigenen Religion,
sondern auch zu den anderen.
Reformation heute bedeutet, die Verschiedenheit in Versöhnung
einander anzuerkennen und zu tolerieren.
So vielfältig, wie uns der Herr Gott geschaffen hat, so vielfältig ist
auch die Vorstellung, die wir uns von ihm machen.
Wir Christen haben durch Jesus und die Briefe des Paulus eine
Grunderkenntnis,
dass sich niemand durch Leistung vor Gott einen guten Namen
machen kann,
niemand hat das Recht, sich über den anderen zu erheben,
denn alle haben gesündigt und bedürfen der Gnade Gottes.
Wir alle sind angewiesen auf die Liebe und die Barmherzigkeit
Gottes.
Wenn wir das glauben und annehmen, dann werden wir auch zur
Liebe und zur Barmherzigkeit fähig.
Und dann werden wir uns und die Welt verändern.
Dazu verhelfe uns Gott der allmächtige und barmherzige. Amen.