Predigt · Misericordias domini · 10. April 2016 · Pfarrerin Ruth Misselwitz
Hesekiel 34, 1 – 2 (3 – 9) 10 – 16, 31
Liebe Schwestern und Brüder,
ich habe mir heute die Freiheit genommen, nicht den vorgeschrieben
Predigttext für diesen Sonntag zu nehmen,
sondern die alttestamentliche Lesung, die für diesen Sonntag
vorgeschrieben ist.
Ein Text aus dem Buch des Propheten Hesekiel aus dem 34. Kapitel:
Text:……………………….
Als Hesekiel diese Worte und Visionen aufschreibt, befindet er sich
im babylonischen Exil zu Beginn des 6. Jahrhunderts vor Christus.
Er war Sohn einer jüdischen Familie dessen Vater Priester war.
Die große Katastrophe lag hinter ihnen.
Israel hatte den Krieg mit den Babyloniern verloren,
die Stadt Jerusalem lag in Schutt und Asche
und vom Tempel, des Zentralheiligtums Israels, war nur noch ein
Trümmerfeld übriggeblieben.
Die intellektuelle jüdische Schicht im Exil versuchte nun
herauszubekommen, woran es lag, dass das Volk Gottes in so ein
Unglück geraten ist.
Und Hesekiel findet seine Antwort darauf:
Die Hirten Israels haben versagt.
Und mit den Hirten ist die gesamte religiöse und politische
Führungsschicht gemeint –
vom König angefangen, über die königlichen Berater und Heerführer
bis hin zu den Priestern am Zentralheiligtum und an den anderen
Orten.
Die Verantwortung, die ihnen für ihre Herde – dem Volk Israel –
übergeben wurde, haben sie missbraucht, indem sie nicht für das
Wohl ihres Volkes, sondern zu ihrem eigen Wohl regiert, beraten und
entschieden haben.
Sie haben ihr Volk in die Irre geführt, haben es in die Katastrophe
laufen lassen,
haben sie nicht vor den wilden Tieren beschützt,
sondern sich mit diesen gierigen Bestien verbündet gegen die ihnen
anvertrauten Schützlinge.
Und das Volk hat ihnen vertraut, sich ihren Entscheidungen gebeugt,
Gehorsam geleistet und sein Tribut gezahlt.
Der Lohn dafür war Krieg und Zerstörung, Vertreibung und
Heimatlosigkeit.
Hesekiel lässt seinem Zorn über die politisch Verantwortlichen freien
Lauf.
Und das Fazit, das er aus diesen negativen Erfahrungen zieht ist:
Es gibt nur einen einzigen guten Hirten, dem man sich 100%
anvertrauen kann – das ist Gott.
Er wird sich seines zerstreuten Volkes erbarmen und es aus allen
Völkern wieder zurückführen in das Land der Erzväter und -mütter,
an die Gräber der Ahnen.
Denn er ist der einzige, der uneigennützig und selbstlos dazu
imstande ist, sein Volk zu behüten und zu bewahren.
Liebe Schwester und Brüder, wir wissen, dass sich die Visionen des
Hesekiels zum Teil erfüllt haben.
Die Deportierten durften ca. 50 Jahre später wieder zurück nach
Israel,
die Trümmer Jerusalems wurden weggeräumt und der Tempel wieder
aufgebaut.
Die Erfahrungen aber von Verführung und Machtmissbrauch, von
Krieg und Zerstörung, Vertreibung und Verlust hat es seitdem in der Menschheitsgeschichte immer wieder gegeben.
Unsere eigene deutsche Geschichte ist dafür ein trauriges Beispiel.
Als vor 70 Jahren nach einem langen und verheerenden Krieg die
Waffen endlich schwiegen, brach für viele Menschen eine Welt
zusammen.
Die Erkenntnis, verführt und missbraucht worden zu sein – ja selbst
aktiv mit getan zu haben – kam leider erst nach der Katastrophe.
Das Ausmaß von Schuld und unfassbarem Leid, das die Deutschen
über Millionen von Menschen gebracht haben, war so groß, dass es
viele bis heute noch nicht eingestehen können.
Auch die Mehrzahl der Christen in Deutschland hat sich der
Demagogie eines selbsternannten Welterlösers nicht entziehen
können und wollen.
Nur wenige Menschen gab es, die sich in diesem Wahnsinn ihre
Humanität, ihre Menschenfreundlichkeit, ihre Liebe bewahren
konnten.,
die, statt einem Befehl ihrem Gewissen gefolgt sind und die Waffe
niedergelegt haben,
die, statt der Angst zu gehorchen, ihrem Mitgefühl gefolgt sind und
Juden versteckt haben,
die, statt dem Ruf eines Führers zu folgen und sich in die Herde
einzuordnen, auf die Stimme ihres Herzens, also auf die Stimme
Gottes gehört haben und sich aus der Herde lösten.
Nur wenige Menschen gab es – aber Gott sei Dank, es gab sie.
Liebe Schwestern und Brüder, es ist eine schwere Bürde, dieses
Hirtenamt.
Auf der einen Seite braucht unser menschliches Zusammensein
beherzte Menschen, die bereit sind Verantwortung zu übernehmen,
Entscheidungen durchzusetzen,
Visionen für die Zukunft zu entwickeln und Menschen mit auf diesen
Weg zu nehmen.
Auf der anderen Seite aber machen wir immer wieder die Erfahrung,
dass Führungsämter die große Versuchung in sich bürgen,
nicht zum Wohle der Allgemeinheit, sondern zum eigenen Vorteil
missbraucht zu werden.
Die jüngsten Enthüllungen um den Skandal der Briefkastenfirmen
und deren Steuerumgehungen in Milliardenhöhe sind dafür ein
trauriges Beispiel.
Autorität, gepaart mit Gewissenhaftigkeit, Verantwortung für das
Gemeinwohl und Mitgefühl für die Schwachen, ist ein wertvolles Gut
Autorität aber, die die Entfaltung und Kreativität des Einzelnen
behindert,
die Fürsorgepflicht für die Schwachen missachtet,
und die Macht missbraucht, um den Reichtum einer Gesellschaft der
Mehrheit der Bevölkerung zu entziehen und in die Hände einer
kleinen Elite zu konzentrieren,
ist ein gefährliches Instrument, dem man Einhalt gebieten muss.
Der soziale Frieden – lokal und global – ist nur durch Gerechtigkeit
zu sichern, nicht durch Waffen oder dubiose Geheimdienste.
Der Text aus dem Buch des Propheten Hesekiel weist uns
eindrücklich auf dieses Problem hin.
Und er weiß nur einen Ausweg aus diesem Dilemma –
Gott allein steht am Ende die Führerschaft zu, nur ihm ist zu vertrauen,
denn am Ende müssen wir uns alle vor ihm verantworten und
Rechenschaft ablegen.
Menschen sind zu schwach, um die ganze Verantwortung einer
Führung übernehmen zu können.
Wer behauptet, das zu können, entlarvt sich sofort als gottlos und
gewissenlos.
Liebe Schwestern und Brüder,
wir Christen sehen in Jesus von Nazareth den Hirten,
der uns von Gott als Führer durch die Gezeiten offenbart wurde.
Ihm sollen wir folgen.
Sein Hirtenamt hat er so hingebungsvoll ausgeführt, dass er sogar
sein Leben ließ für die Seinen.
Er hat nicht zum Heiligen Krieg aufgerufen, in dem man sein Leben
opfern soll für ihn –
nein – er hat sein Leben für die Seinen geopfert,
damit wir leben können.
Er hat der Gewalt die Gewaltlosigkeit gegenüber gestellt,
dem Hass die Liebe,
der Vergeltung die Versöhnung.
Alles, was wir in dieser Welt und in der Kirche als Hirtenamt
auszuüben haben, ist an diesem Hirtenamt zu messen,
wenn wir uns als Christen bezeichnen.
Mutige Menschen – und nicht nur Christen, die in diesem Sinne ihr
Hirtenamt ausgeübt haben, kennen wir aus der Geschichte und aus
der Gegenwart.
Ich nenne den Arzt und Pädagogen Januz Korczak, der ein jüdisches
Waisenhaus in Warschau leitete. Obwohl Korczak wusste, dass dies
den sicheren Tod bedeutete, begleitete er die Kinder auf dem Weg ins
Konzentrationslager und ging mit ihnen in die Gaskammer.
Ich will aber auch den derzeitigen Papst Franziskus nennen,
der wie kein anderer zuvor die Unmenschlichkeit des Kapitalismus
anprangert,
sich eindeutig auf die Seite der Armen und Flüchtlinge stellt
und sich für den Frieden und soziale Gerechtigkeit einsetzt.
Aber selbst er ist nicht der vollkommene Hirte –
die Bemühungen um ein gemeinsames Abendmahl,
die Diskussionen um die Ordination von Frauen,
und einiges andere mehr
sind immer noch nicht vorangekommen.
Letztendlich also sind wir immer wieder auf Gott verwiesen.
Das, liebe Schwestern und Brüder, darf uns trösten über die
Unzulänglichkeiten menschlichen Tuns und Trachtens.
Das darf uns aber auch Mut machen, unserem eigenen Gewissen zu
folgen,
der Stimme unseres Herzens zu vertrauen und im ständigen Gebet
und im Hören und Studieren der Schrift
den Ruf unseres Hirten Jesus, zu ergründen.
Diesen Ruf in ihrem Leben zu hören, das wünsche ich unserem
kleinen Täufling Marie, die wir heute in der Taufe Gott anvertraut
haben.
Das wünsche ich aber auch uns allen, ihnen wie mir, hier in dieser
Kirche und außerhalb dieser Kirche. Amen.