Predigt · Gründonnerstag · 24. März 2016 · Pfarrer i.R. Lorenz Wilkens
Markus 14, 12 – 25
DE CENA ULTIMA
Liebe Gemeinde,
wir gedenken des Abschieds Jesu von seinen Jüngern, von seinem
Leben; wir gedenken seines letzten Abends. Der Abschied begab
sich während des festlichen Essens, mit der das jüdische Volk
das erste seiner drei großen Wallfahrtsfeste eröffnet, das
Pessach-Fest, an dem es die Erinnerung an einen anderen
Abschied feiert: den befreienden Auszug des Volkes aus Ägypten
unter der Führung des Mose. Der erste Abend dieses Festes wird
mit einem feierlichen Mahl eröffnet, dem sog. Seder-Mahl.
Dabei verliest der Hausvater den überlieferten Bericht von dem
Auszug, die Pessach-Haggada; und dabei werden Brot und Wein
von ihm gesegnet – die Mazzoth, Brote, die ungesäuert sind wie
jene, die das Volk Israel von Ägypten mitnahm, und der Kelch
des Segens – ein Kelch für alle, die an dem Mahl teilnehmen.
Sie wissen, Jesus ist mit den Seinen als ein Wallfahrer zum
Pessachfest nach Jerusalem gekommen, hat aber dort keine
Unterkunft gefunden, sondern sich nach Bethanien begeben, dem
vor den Toren der Stadt gelegenen Asyl für die Aussätzigen.
Daher fragen ihn die Jünger: Wohin sollen wir gehen, um das
Pessach-Mahl vorzubereiten? Man kann darin eine Erinnerung an
seine Heimatlosigkeit finden. „Die Füchse haben Gruben, und
die Vögel haben Nester, aber des Menschen Sohn hat nicht, da
er sein Haupt hinlege.“ (Mt 8, 20) Und nun die merkwürdige
Antwort Jesu: „Begebt euch in die Stadt, und ein Mensch wird
euch begegnen, der einen Tonkrug mit Wasser trägt. Ihm folgt.“
Sie sollen ihn an dem Tonkrug erkennen. Das griechische Wort
für den ‚Tonkrug’, κεράμιον (daher unsere ‚Keramik’) begegnet
im Neuen Testament nur dies eine Mal1; und auch im griechischen
Alten Testament, der LXX, findet es sich sehr selten –
insgesamt nur an vier Stellen. Wir können daher annehmen, daß
es an eine Stelle aus dem Buch des Propheten Jeremia anspielt:
Jer 42. Dort wird berichtet, wie der Herr dem Propheten den
Auftrag gibt, die gottesfürchtige Sippe der Rechabiter
aufzusuchen: „Führe sie zum Haus des Herrn und gib ihnen Wein
zu trinken. Und ich führte … die ganze Sippe der Rechabiter
heraus und ins Haus des Herrn hinein, in die Kammer der Söhne
des Ananias, … die nahe dem Haus der Amtsträger oberhalb
(hervorgehoben von mir – L. W.2) des Hauses des Maasaias, des Sohnes des Selom, ist, der den Hof (sc. des Tempels – L. W.)
bewacht. Und ich setzte ihnen einen Tonkrug mit Wein vor und
sagte: Trinkt Wein!“ (Jer 42, 2 – 5) Mithin bedeutet die
Anweisung Jesu eine Konzeption seiner Gefolgschaft, wie sie in
Zukunft leben soll – nicht anders nämlich als jene Rechabiter,
von denen es in Jer 42 heißt, sie seien niemals seßhaft
geworden, sondern hätten – wie einst das Volk Israel in der
Wüste – immer in Zelten gelebt. Übrigens hätten sie den Genuß
des Weins, weil sie ihn grundsätzlich ablehnten, von Jeremia
nicht angenommen. Aber zum Wein mehr etwas später.
Jesus und die Jünger kommen darnach wirklich in besagtem
Obergemach an; liebe Gemeinde, Sie erinnern sich an das
berühmte Bild Leonardos vom Letzten Abendmahl Jesu; es stellt
ein stattliches, nach Art eines Tempels (mit Kassettendecke
und Eierstabornament) geschmücktes Obergemach dar. Man erkennt
seine hohe Lage an dem Ausblick, den die im Hintergrund des
Bildes, im Rücken Jesu und der Jünger befindlichen drei
Fenster3 auf die Landschaft gestatten.
Und nun die uns Christen vollkommen unvergeßlichen, heiligen
Worte Jesu; ich zitiere sie in der Version des Markus-
Evangeliums: „Während sie aßen, nahm er Brot, segnete es,
brach es, gab es ihnen und sprach: Nehmt! Dies ist mein Leib.
Und er nahm den Kelch, dankte und gab ihn ihnen, und sie
tranken alle daraus. Und er sprach zu ihnen: Dies ist mein
Blut des Bundes, das ausgeschenkt wird für viele.“ Ich sagte
bereits, Jesus folgt der jüdischen Tradition des Seder-Abends,
indem er das Brot segnet; in bezug auf den Wein wandelt er
diese Tradition ab: Er segnet ihn nicht, sondern er dankt
dafür4. Außerdem fügt er dem Segen – und dem Dank – Worte
hinzu, zu denen ihnen die Situation seines Abschieds
inspiriert: Während er das Brot austeilt, sagt er: ‚Dies ist
mein Leib’, und zu dem Wein: ‚Dies ist mein Blut des Bundes,
ausgeschenkt für viele’. Das Brot – die Mazzoth; solche haben
dem Volk Israel während seiner Wanderung als Wegzehrung
gedient. Und nun sagt Jesus: ‚Dies ist mein Leib.’ Das meint:
Den Jüngern soll die Erinnerung an die Person Jesu, an seine
Worte und Handlungen als Wegzehrung dienen. Niemand weiß,
wohin ihre Lebensreise sie führen wird. Dennoch ist für die
Gewißheit ihrer Bestimmung und ihrer Schicksale vorgesorgt,
wie mit Brot für eine Reise – durch die Erinnerungen an Jesus,
die in ihnen verkörperte Gegenwart seines Geistes.
Gestatten Sie mir die Anfügung eines weiteren Gedankens:
B r o t – das ist das Nahrungsmittel überhaupt, das
allgemeine Nahrungsmittel. In diesem Sinne wird man m. E. die
sog. Schaubrote verstehen können, die im Tempel – wie bereits
vorher im „Zelt der Begegnung“5 – auf einem heiligen Tisch
ausgelegt wurden: „Und lege auf den Tisch Brot des Gesichts
vor meinem Angesichte – beständig.“ (Ex 25, 30) Es handelt
sich nicht um Opfer. Sondern dies Brot steht metonymisch für
die Ordnung des Lebens und seiner Erhaltung überhaupt.6 Und nun
soll das Brot den Jüngern für die Ordnung ihres Lebens auf
seiner unbekannten Reise stehen; es soll in diesem Sinne
unlösbar mit den Erinnerungen an Jesus verbunden sein.
Von da zum Wein: Jesus hat den Kelch des Seder-Abends
gesegnet; darnach assoziiert – verbindet – sich dieser in
seinem Gedanken unwillkürlich mit der Erinnerung an das Opfer,
das Mose darbrachte, nachdem er dem Volk die Thorah, in der
Form der Zehn Gebote, verkündet hatte. Er sagt über das Blut
der dargebrachten Opfertiere, mit dem er das Volk besprengt:
„Seht, das Blut des Bundes, den der Ewige mit euch geschlossen
hat entsprechend allen diesen Worten.“ (Ex 24, 8) Seitdem ist
die Fügung „Blut des Bundes“7 der Name eines geheiligten
Gedankens. Damit zeichnet Jesus den Wein des Seder-Abends aus.
Das Blut, mit dem Mose nach der Promulgation des Dekalogs das
Volk besprengte, war Sühneblut. Es reinigte jene, die es
berührte, von ihrer Schuld.8 Jesus trägt nun den Gedanken
solcher Reinigung an den Weinkelch des Seder-Abends heran.
Dazu muß man wissen, welche Bedeutung ihm bei den Juden in
dieser Mahlzeit zukam und bis heute zukommt. Es handelt sich
um den vierten, den letzten Kelch.9 Und nun das Entscheidende:
Dieser letzte Kelch ist nach der Ordnung des Seder-Abends der
E r l ö s u n g gewidmet, die von der Wiederkunft des E l i a erwartet wird.10 Wir wissen, daß die Zeit Jesu von der
Erwartung seiner Wiederkehr erfüllt war. Wahrscheinlich dürfen
wir annehmen, daß schon damals das Gedenken an ihn in die
Feier des Seder-Abends aufgenommen worden war – wenn es nicht
eben die Zeit war, in der diese Aufnahme sich ereignete. Dann
hätte Jesus den Gedanken der Sühne durch Opferblut in die –
mit dem Genuß des Weins verbundene – eschatologische Freude
übertragen, mit der man die Wiederkunft des großen
Gottesmannes erwartete. S i e ist es nun, die sühnt; und für
sie steht der Wein. Darnach ist – oder bedeutet – er
n i c h t das Blut Jesu. Sondern wenn er von „ s e i n e m “
„Bundesblut“ spricht, so meint er eben – im Gedenken an Ex 24 die Ersetzung des Opferblutes durch die die Letzte Zeit
ankündigende und vorwegnehmende Freude, für die der Wein
steht.11
Auf diese Weise zeigt sich endlich auch eine nachdenkliche
Beziehung des Letzten Mahls auf die Geschichte von der
Verwandlung – „Verklärung“ – Jesu, die im Markusevangelium auf
die erste Ankündigung seines Leidens folgt (Mc 9, 2 – 13). Sie
erinnern sich, dort – auf dem Berge Tabor – waren die beiden
großen Gottesmänner, Mose und Elia, an die Seite Jesu
getreten; drei seiner Jünger hatten der heiligen Unterredung
zugesehen, welche die drei Gottesmänner auf dem Berge vereinigte. Mose und Elia mit Jesus vereint – das bedeutet die
Erneuerung des Bundes zwischen Gott und dem Volk Israel in der
Letzten Zeit. Und nun sehen wir, auf welche Weise Jesus diese
Bedeutung am Vorabend seines Todes von der Vision auf dem
Berge in das Letzte Seder-Mahl überträgt – die Bedeutung des
mosaischen Bundesopfers in den Wein des Elia gewidmeten
Kelchs, die Freude der kommenden Erlösung. Es soll fortan die
Hoffnung sein, welche sühnt – die Aussicht auf die
Durchbrechung des Schuldzusammenhangs und seiner Geist und
Gemüt lähmenden Wirkung. An ihre Stelle soll die Erfahrung
treten, daß es nicht aussichtslos ist, im Verhältnis zu
Mitmenschen und Gesellschaft einen neuen Anfang zu machen, da
jeder moralische Impuls – als Nachahmung der Schöpfung Gottes
– den Keim eines neuen Anfangs in sich trägt.
Liebe Gemeinde, lassen Sie mich abschließend sagen: Es liegt
auf der Hand, daß diese Deutung uns vom kirchlichen Herkommen
entfernt, jenem Herkommen, das mit dem Begriff vom „Sühnopfer
des Neuen Bundes“ bezeichnet wird. Ich bin jedoch davon
überzeugt, daß die Deutung, die ich hier vertrete, uns zu den
Anfängen der Kirche, zu den Anfängen namentlich des
Altarsakraments zurückführt. Wenn es sich aber so verhält, ist
damit ein bedeutender Vorteil verbunden: Es wäre ein
entscheidender Schritt auf dem Wege zur Überbrückung der
Kluft, die noch immer die Christen vom jüdischen Volk trennt
und mithin ein Schritt zur Durchbrechung des Schuldzusammenhangs,
dessen Nachwirkungen Geist und Gemüt der
Deutschen bis heute belasten und verdunkeln. Dazu helfe uns
Gott. Amen.
1 abgesehen von der Parallelstelle Lc 22, 10. In Luthers Übersetzung ist von
einem ‚Krug’ die Rede; Bengel übersetzt sensibler, indem er von einem
‚irdenen Gefäß’ spricht – vielleicht von Jer 19, 1 und II Cor 4, 7
inspiriert; NB aber auch den in der Vg. Mc 14, 13 verwendeten Ausdruck
lagoena – nach Lewis & Short ‚a large earthen vessel’.
2 Daher denn wohl das ‚Obergemach’ in Mc 14 & par. Das dafür verwendete Wort
ἀνάγαιον ist – wiederum abgesehen von der Parallelstelle in Lc 22 – im NT
hapax legomenon. Es spricht wohl dafür, daß die Geschichte aus einer –
eigentlich aramäisch sprechenden – jüdischen Gemeinde stammt. Denn das Wort
ist entstellt; im klassischen Griechisch heißt es ἀνώγαιον (‚hoch über der
Erde’); diese Bedeutung gibt die Präposition ἀνά nicht her.
3 wie die drei Portale einer Kirche – nachgebildet den drei Toren der σκηνή
skené – des griechischen Theaters.
4 Nach Lc 22 ist in beiden Deuteworten von „Dank“ die Rede; das Lukas-
Evangelium folgt der Tradition, die in I Cor 11 begegnet und die
liturgische Tradition der Kirche bestimmt hat. –
5 die Luther als ‚Stiftshütte’ bezeichnete.
6 Diese Einsicht verdanke ich einem Gespräch mit Elisabeth Mittag.
7 welche in der Abendmahlstradition von I Cor 11 fehlt!
8 Cf. Lev 8.
9 In dem Bericht des Ersten Briefes an die Korinther von der
Abendmahlstradition heißt es – Sie alle haben diese Wort im Kopf -:
„Desselbigengleichen [nahm er] auch den Kelch n a c h dem Abendmahl.“ (I
Cor 11, 25)
10 Cf. Friedrich Thieberger (Hrsg.), Jüdisches Fest – Jüdischer Brauch.
Frankfurt am Main 1997, S. 209: „Auch die Vorschrift der vier Becher Wein
… kennt schon die Mischna. Damals schon sah man streng darauf, daß nicht
zwischen dem ersten und zweiten Becher und ebenso zwischen dem dritten und
vierten jeder nach seinem Belieben trinke.“ Dazu die Anm. S. 216: „Der
Grund, warum gerade vier Becher von jedem getrunken werden sollen, wird mit
den vier Ausdrücken in Zusammenhang gebracht, welche die Erlösung im 2. B.
M., Kap. 6, Vers 6 u. 7, bezeichnen: ‚Ich führe euch hinaus …, ich rette
euch …, ich erlöse euch …, ich nehme euch mir zum Volk.’“ Cf. auch den
Artikel „Seder“ in WIKIPEDIA. Dort heißt es ausdrücklich, der vierte Becher
sei dem Propheten Elia bestimmt.
11 Auch die in Qumran lebende Sekte soll während ihrer Mahlzeiten mit dem
Genuß des Weins die Freude des himmlischen Lebens der Neuen Zeit
vorweggenommen haben. – Mit diesen Verhältnissen wird es zusammenhängen,
daß das Markus-Evangelium in bezug auf den Wein Dank an die Stelle des
Segens setzt. Das ‚danken’ bedeutende Wort εὐχαριστεῖν – eucharisteîn –
begegnet in der LXX sechsmal – einmal in der Weisheit Salomos, viermal in
den Makkabäerbüchern und einmal im Buch Judith, das in der späteren
Makkabäerzeit entstanden ist. Man kann sagen, das Wort gehöre dem
historischen Komplex der makkabäischen Befreiung an und konnotiere sie. So
fügt es sich plausibel genug zu dem Kelch der Erlösung. Die Ersetzung des
‚Segens’ in bezug den Wein durch ‚Danken’ stellt mithin eine besondere
Auszeichnung der Erlösung mit ihren historischen: makkabäischen
Konnotationen dar. Sie stellt sie bewußt – als solche – in eine Reihe mit
der das Pessachfest begründenden Erinnerung an den Auszug aus Ägypten. Von
da führt eine gedankliche Brücke zu dem Schluß des zweiten Deutwortes:
„Wahrhaftig, ich werde nicht trinken von dem Gewächs des Weinstocks bis zu
dem Tag, an dem ich neu davon trinken werde – im Reich Gottes.“ (Mc 14, 25)
Der Beginn des Reiches Gottes wäre die dritte Befreiung des Volkes Israel.
Die Gemeinde trinkt von dem Kelch in der Hoffnung, ihn einst mit Jesus zu
teilen – ein deutlicher Akzent auf dem Charakter der ‚Eucharistie’ als
Vorwegnahme!