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Predigt · 16. Sonntag nach Trinitatis · 20. September 2015 · Pfarrerin Ruth Misselwitz

Posted on Sep 22, 2015 in Predigten

Johannes 11, 1, 3, 17 – 27, 41 – 45

Liebe Schwestern und Brüder,
was ist das für eine Geschichte, einen Toten auferwecken, der schon
vier Tage im Grab liegt und schon riecht.


Wer kann denn das glauben und wer hat denn das schon mal erlebt?


Ich habe in meinem Studium und auch durch meine Lebenserfahrung,
in der ich solch eine Totenauferweckung wirklich noch nicht erlebt
habe,
gelernt, diese Geschichte symbolisch zu deuten.


Als eine Geschichte, in der es um Befreiung aus Todesängsten und
Todesfesseln geht,
um den Beginn eines neuen Lebens, das frei ist von
lebenszerstörenden Strukturen und menschenverachtenden
Zuständen.


Anfang der 90ziger Jahre, 1993 – also kurz nach der Wende –
in den Wirren des Zusammenbruchs und Neubeginns in unserem
Land –
ließ ich mich für drei Monate von meinem Dienst beurlauben und
ging nach Südafrika,
um dort eine ähnliche Situation in diesem Land von Umbruch und
Aufbruch zu erfahren, wie bei uns
und um aus einem gewissen Abstand heraus die Dinge hier in
unserem Land zu betrachten.


Ich war dort in einem Dorf bei einem deutschen Pfarrer, der eine
schwarze Gemeinde leitete und er bat mich am Sonntag die Predigt
zu halten.
Es war der 16. Sonntag nach Trinitatis und ich predigte über diesen
Text.


Meine Auslegung ging genau in diese Richtung der symbolischen
Auferstehung und Befreiung, die wir in Deutschland mit dem
Neubeginn erlebten
und die nun auch hier in Südafrika beginnt.


Die schwarzen Gemeindemitglieder aus dem Dorf hörten mir
freundlich und herzlich zu,
am Ausgang spürte ich jedoch eine gewisse Befremdung.


Der Pfarrer klärte mich auf: Du hast wunderbar gepredigt, aber völlig
an ihnen vorbei – Den Menschen hier ist solch eine
Totenauferweckung gar nicht fremd, die haben sie hier schon
leibhaftig erlebt.


Und dann hat er mir bis in die tiefe Nacht hinein erzählt,
wie anders doch die Welt in Afrika ist
und so gar nicht in unsere europäischen rationalen Vorstellungen zu
pressen ist.


Ich habe seitdem versucht, diese Geschichte nicht nur rational zu
erklären,
sondern auch eine andere Weltsicht zuzulassen, die weit über unseren
Verstand hinausgeht.


Die erste Frage, die wir uns bei dieser Geschichte stellen, ist doch,
warum denn weiterhin so viele Menschen sterben
und warum denn ausgerechnet dieses Kind oder der heißgeliebte
Partner sterben musste, um die wir doch so sehr gebetet haben.


Liebe Schwestern und Brüder, zuerst einmal muss gesagt werden,
dass um Jesus herum auch so manch ein heiß geliebter Mensch gestorben ist, um den er Trauer und Leid erfahren hat und den er
nicht auferweckt hat.


Der Evangelist Johannes, der allein von allen 4 Evangelien uns diese
Geschichte erzählt, tut das mit einer ganz besonderen Botschaft.


Und diese lautet: Jesus ist der vom Volk Israel erwartete Messias!


Er hat die Gabe Kranke zu heilen, Tote aufzuwecken und den Armen
die frohe Botschaft des anbrechenden Reiches Gottes zu verkünden.


Wer das glaubt, der wird das ewige Leben erhalten.


Und dieses Leben ist nicht nur begrenzt auf unserer kurzes
biologisches Erdenleben,
sondern dieses Leben überwindet den Tod und alle Begrenzungen,
die durch unseren Verstand vorgegeben sind.


Dieses Leben ist ein erfülltes, ein sinnvolles, ein gottgegebenes
Leben, das weder durch Menschen noch durch Dämonen zerstört
werden kann.


Die griechische Sprache, in der diese Geschichte uns überliefert
wurde, hat für das Wort Leben zwei Begriffe:
das eine ist bios, das andere Zoe.


Bios wird verwendet für das begrenzte irdische fleischliche Leben.


Zoe ist das Leben, das die irdischen Grenzen sprengt und den ganzen
Kosmos verbindet
und über das auch die Götter in der griechischen Götterwelt verfügen.


Jesus benutzt hier dieses Wort „Zoe“, wenn er sagt:
„Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der
wird leben, auch wenn er stirbt; und wer da lebt und glaubt an mich,
der wird nimmer mehr sterben.“


Als Jesus den mit Grabtüchern an Händen und Füßen gebundenen
Lazarus aus dem Grab ruft, spricht er zu den Umherstehenden:
„Befreit ihn und lasst ihn gehen!“


Die Angehörigen lösen die Binden und lassen ihn gehen.


Das neue befreite Leben beginnt.


Liebe Schwestern und Brüder,
in dieser Geschichte verweben sich in wunderbarer Weise die beiden
Arten von Leben – das irdische begrenzte und das ewige göttliche
Leben.


Hier bricht das Reich Gottes mitten hinein in die Welt
und führt den Blick hinaus aus dem Sichtbaren in das Unsichtbare.


Mit dieser Geschichte will uns der Evangelist Johannes erzählen,
dass wir nicht länger auf die Gegenwart Gottes warten müssen.


Er ist hier unter uns – überall und in jedem Moment.


Von nun an gibt es keinen gottlosen Ort,
keinen gottverlassenen Menschen.


Wer das glaubt, der wird leben und nimmer mehr sterben.


Liebe Schwestern und Brüder, lassen sie mich am Ende noch einen
kleinen Schwenker machen.


Marta, die Schwester des auferstandenen Lazarus, spielt hier eine
ganz besondere Rolle. Sie läuft Jesus entgegen und ringt mit ihm um ihren Bruder.


Und Jesus begibt sich mit ihr in ein theologisches Gespräch und fragt
sie: Glaubst du, dass ich der Messias bin?
Und sie antwortet: Ja, Herr, ich glaube, dass du der Messias bist, der
Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist.


Das ist ein klares und eindeutiges Messiasbekenntnis.


Nach den altkirchlichen Regeln galt die Vereinbarung, dass sich nur
Apostel nennen darf, wer zu Lebzeiten Jesu und vor Ostern dieses
Messiasbekenntnis gesprochen hat.


Das war auch ein Grund, warum der Apostel Paulus lange um diesen
Titel kämpfen musste, denn er fand erst nach Ostern den Weg zu
Jesus.


Er blieb dann aber auch der einzige, der nach Ostern in die Reihe der
Apostel eingereiht wurde.


Marta hingegen erfüllt alle Bedingungen, die eine Apostelin benötigt.
Sie kannte Jesus zu Lebzeiten und bekannte ihn als Messias.


Trotzdem wurde sie später nicht in die Apostelgruppe aufgenommen,
weil sie ein Frau war.


Da gäbe es noch einige andere Frauen zu nennen, die ein ähnliches
Schicksal teilten.


In der Urchristenheit waren sie noch bekannte und einflussreiche
Persönlichkeiten –
mit der zunehmenden Institutionalisierung der Kirche wurden sie
aber immer weiter aus diesen Ämtern zurückgedrängt
und an ihre Stelle traten nun die Männer.
Es ist gut, sich dieses immer mal in Erinnerung zu rufen


und es ist gut zu sehen, dass heute Frauen ebenso wie Männer
in der evangelischen Kirche gleichberechtigt miteinander arbeiten
können.


Liebe Schwestern und Brüder, liebe Taufeltern und Paten,
ich wünsche ihnen allen, dass sie dieses Leben, von dem Jesus
spricht,
hier und heute erfahren,


ich wünsche ihnen, dass sie befreien und loslassen können
und so dem neuen Leben Einlass gewähren.


Amen.