Predigt · 20. Sonntag nach Trinitatis · 13. Oktober 2013 · Pfarrerin Ruth Misselwitz
Markus 2, 23 – 28
Liebe Schwestern und Brüder,
als wir im Jahre 1995 eine Gemeindefahrt nach Israel machten,
besuchten wir auch Bethlehem.
Wir standen in der sengenden Hitze auf einem Hirtenfeld,
lasen die Weihnachtsgeschichte und sangen „Vom Himmel hoch, da
komm ich her“.
Ganz in der Nähe war eine palästinensische Frau,
sie sammelte Ähren, holte die Körner aus den Hülsen,
machte ein kleines Feuer,
röstete die Körner in einem kleinen Behälter
und kam dann mit ausgestreckter Hand, in der die gerösteten Körner
lagen, auf uns zu.
Sie bot uns diese Körner als Geste der Gastfreundschaft an.
Die orientalische Gastfreundschaft gebietet, den Gästen etwas zu
Essen zu reichen,
aber sie hatte nicht mehr als diese Körner, die sie vom Feld erntete
und sie wollte doch unbedingt uns, die wir fremd waren, in ihrem
Land begrüßen.
Ich weiß noch wie damals, wie mich diese Geste zutiefst gerührt hat.
Liebe Schwestern und Brüder, diese kleine Szene fiel mir ein, als ich
die Geschichte mit Jesus und dem Ährenraufen las.
Da wandert Jesus wieder ein mal durch die Lande mit seinen Jüngern
und Jüngerinnen und sie kommen an einem Getreidefeld vorbei.
Ich weiß nicht, wie lange sie schon unterwegs sind,
die Vorräte werden ausgegangen sein,
das Geld vielleicht auch, viel hatten sie ja eh nicht,
und nun kam Hunger auf.
Und sie tun das, was üblich war, wenn man Hunger hatte,
sie reißen Ähren aus und essen die Körner.
Nun denken wir: was soll denn das, von den paar Körnern kann man
doch nicht satt werden, das ist doch wirklich lächerlich.
Aber so denken wir, die wir genug haben und keinen wirklichen
Hunger kennen.
Erst kürzlich erzählte eine Frau in unserem Gesprächskreis, wie sie
als Flüchtlinge damals nach dem 2. Weltkrieg hier her kamen und auf
einem Bauernhof untergebracht waren und wirklich Hunger hatten.
Wenn es der Bauer erlaubte, durften sie auf dem Feld die liegen
gelassenen Ähren aufsammeln – so haben sie überlebt.
Liebe Schwestern und Brüder, die kleine Gruppe, die da mit Jesus
durch die Lande wandert hatte also Hunger und sie holen sich das,
was da am Wege wächst.
Nun sind da auf einmal Pharisäer auf der Bildfläche – woher sie
kommen wird nicht erzählt, vielleicht wanderten sie auch mit Jesus
umher.
Und sie nehmen Anstoß daran, dass Jesus und seine Gefolgschaft am
heiligen Sabbat eine Arbeit verrichtet – nämlich Getreide ernten.
Sie kritisieren nicht, dass sie sich am fremden Eigentum vergehen,
sich also des Diebstahls schuldig machen.
Nein – kritisieren, dass die Heiligkeit des Sabbats verletzen.
Nun muss man wissen, dass die Einhaltung des Sabbats zu den
zentralen religiösen Regeln gehört, die die Juden haben.
Der Sabbat als der letzte Tag der Woche, den Gott sich als den
Ruhetag nach den 6 anstrengenden Schöpfungstagen gegönnt hat,
ist als ein göttliches Geschenk an den Menschen weiter gegeben
worden.
Im 6. Jahrhundert vor Christus wurde dieser Ruhetag im jüdischenVolk eingesetzt und gehört seitdem zur jüdischen Religion, zu ihrer
Kultur – ja, es macht ihre Identität aus.
Auch in der zweitausendjährigen Zerstreuung des Volkes Israel über
ganz Europa hinweg
hielt die Feier dieses Sabbats die Familien und das Volk zusammen,
Den Sabbat kann man feiern, egal wo man sich befindet,
da braucht es nicht mal eine Synagoge, wenn keine in der Nähe ist.
Da braucht es nur ein paar Kerzen, die Heilige Schrift und die
Bereitschaft zur Ruhe und zur Besinnung.
Im Sabbatgebot heißt es, dass alle dieses Recht auf Ruhe haben,
die Männer und Frauen, die Sklaven, die Tiere,
ja sogar die Fremden, die in einer Stadt in Israel wohnen.
Das war einzigartig in der antiken Welt.
In jedem anderen Volk hatten die Sklaven kein Recht auf einen
Ruhetag.
Deshalb heißt es auch in einer römischen Notiz, dass die Juden ein
faules Volk wären, weil sie alle ausnahmslos einen Tag in der Woche
nicht arbeiten würden.
Die ersten Christen haben mit den Juden zusammen auch noch den
letzten Tag der Woche – den Sabbat gefeiert.
Nach und nach aber setzte sich der 1. Tag der Woche – der Sonntag –
als der Ruhetag der Christen durch.
Denn nach der Schrift ist Jesus am ersten Tag der Woche von den
Toten auferstanden – der Sonntag ist der Auferstehungstag.
Wir feiern also an jedem Sonntag die Auferstehung unseres Herrn.
Erst im 4. Jahrhundert wurde dann der Sonntag durch den römischen
Kaiser Konstantin zum gesetzlichen Feiertag erklärt.
Und heute gibt es wieder einen heftigen Streit mit der
Konsumwirtschaft um die Einhaltung des Sonntages.
Und dabei soll es nicht darum gehen, dass hier ein Gesetz von der
Kirche durchgesetzt werden soll,
sondern wir machen darauf aufmerksam, dass es zum Recht eines
jeden Menschen gehört, einen Tag in der Woche zu ruhen,
dass dieses Recht zu seiner Menschenwürde gehört, die ihm von Gott
verliehen wurde.
Liebe Schwestern und Brüder, diesen kleinen historischen Ausflug
musste ich machen, um die Dimension unserer Geschichte mit Jesus
zu verstehen.
Ich kann die Pharisäer sehr gut verstehen, die durch eigenmächtiges
Handeln von irgendwelchen Leuten eine Gefahr wittern.,
eine Gefahr, dass alle guten Regeln und Sitten außer Kraft gesetzt
werden
und am Ende jeder nur seinen eigenen egoistischen Bestrebungen
nach geht.
Ich habe ja als Pfarrerin eine ähnliche Aufgabe wie die Pharisäer,
nämlich darauf zu achten, dass alle Dinge in einer Gemeinde nach
den Ordnungen der kirchlichen Regeln geschehen
und dass das Evangelium in rechter Weise verkündigt wird.
Nun gibt es aber wohl unterschiedliche Weisen, diesem Amt gerecht
zu werden.
Da gibt es auf der einen Seite die Buchstaben getreue und
dogmatische Auslegung dieses Gesetzes
auf der anderen Seite aber die menschenfreundliche Auslegung.
Stelle ich das Gesetz und die Ordnungen über den Menschen,
so dass der Mensch ein Diener des Gesetzes wird, oder stelle ich den Menschen über das Gesetz,
so dass das Gesetz dem Menschen dient.
Jesus positioniert sich hier sehr klar.
„Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der
Mensch um des Sabbats willen.“
Er setzt nicht den Sabbat außer Kraft, er stellt ihn aber wieder in den
Rang zurück, den er von Gott für den Menschen bekommen hat.
Liebe Schwestern und Brüder,
wenn sich Verordnungen oder Regeln verselbstständigen,
wenn sie nicht mehr hinterfragt und kritisiert werden dürfen,
so dienen sie nicht mehr dem Menschen, sondern richten sich gegen
ihn.
Wenn Menschen also Hunger haben, dann dürfen sie gegen Regeln
verstoßen, die ihnen den Zugang zur Nahrung verweigern.
Wenn Menschen unter Armut, Terror, Krieg und Gewalt leiden,
dann haben sie das Recht, Einlass zu verlangen in Länder, die vom
Wohlstand überfließen
und die Mitverursacher und Nutznießer sind an dem Elend in ihren
Herkunftsländern.
Wir Christen haben ja nicht allzu viel Grund mit dem Finger auf
andere zu zeigen und stolz auf uns zu sein.
Eine Meldung aber hat mich in den letzten Tagen wirklich gefreut.
Da gab es unter den vielen talkshows im Fernsehen eine,
in der ein Vertreter der europäischen Abschottungspolitik gegenüber
Flüchtlingen saß
und sich ernsthaft über den Papst Franziskus beschwert hat,
der nämlich alle Klöster in Italien prüfen lässt, ob sie Flüchtlinge
aufnehmen können.
Dieser Papst, so der Redner, setzte sich über alle Gesetzte hinweg
und mache sich strafbar, wenn er illegalen Flüchtlingen Unterkunft
gewährt.
Gott sei Dank, dachte ich da, Gott sei Dank, dass dieser kirchliche
Würdenträger es wagt, sich über unmenschliche Gesetze hinweg zu
setzen
und über alle Gesetze das höchste und edelste Gesetz stellt –
das Gesetz der Liebe.
Möge Gott ihm weiterhin Kraft verleihen auf diesem Weg
und schenke er auch uns die nötige Einsicht und die Kraft der tätigen
Nächstenliebe.
Amen.