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Predigt · Invokavit · 26. Februar 2012 · Pfarrer i.R. Lorenz Wilkens

Posted on Feb 27, 2012 in Predigten

Markus 14, 3 – 9

Liebe Gemeinde,


Jesus ist mit seinen Anhängern nach Jerusalem eingezogen, um
am Pessach-Fest teilzunehmen, einem der drei großen
Wallfahrtsfeste des jüdischen Volkes. Bei seinem Einzug wurde
er begrüßt, wie man alle Wallfahrer in der Stadt begrüßte –
mit Worten aus Ps 118: „Herr, hilf! (auf hebräisch: hoschi’ah
na) Herr, laß gelingen! Gesegnet sei, der kommt, im Namen des
Herrn. Wir segnen euch vom Hause des Herrn aus. Der Herr ist
Gott; er erleuchtet uns.“ Während des Einzugs Jesu ist bei
seinen Anhängern und den ihn und sie begrüßenden Jerusalemern
die Hoffnung, durch ihn werde das Königreich Davids
wiederhergestellt werden, auf ihren Höhepunkt gekommen. So
fügen sie dem Gruß, der den Wallfahrern gilt, den Ruf hinzu:
„Gesegnet sei das kommende Königreich unseres Vaters David!
Hilf in der Höhe!“ Dann zieht Jesus zum Tempel, und nun muß es
geschehen, muß sich entscheiden: Jesus muß zum Messias
g e s a l b t werden. Und es geschieht nicht! Die Salbung
bleibt aus. Es heißt, Jesus sah sich im Tempel alles an;
darnach ging er mit dem Zwölfen nach Bethanien. Das war ein
kleiner Ort außerhalb der Mauern, südöstlich von Jerusalem –
ein Asyl für die „Aussätzigen“, die Leprakranken, denn sie
durften nicht in der Stadt leben, sie waren vor die Mauern
verbannt. Dorthin geht Jesus. Statt daß in Jerusalem, im
Tempel seine königliche Würde manifestiert und von den
Priestern bestätigt wird, geht er an einen Ort der
Ausgeschlossenen. Er verschwindet vor den Augen der
Öffentlichkeit. Bedeutet dies Verschwinden nicht das
Eingeständnis seiner Niederlage?
In Bethanien hält er sich auch nach zwei Tagen auf – als Gast
eines Simon, der an Lepra erkrankt ist. Wie seine Jünger
gestimmt sind, können wir uns leicht vorstellen: enttäuscht
von Jesus, niedergeschlagen, in ihnen brütet ein Groll gegen
ihn, sie sind ratlos, beunruhigt, geängstigt: Was wird das
Priesteramt, was werden die Römer tun? Eben vor unserer
Geschichte berichtet das Markus-Evangelium von dem Plan des
Priesteramts, ihn zu verhaften und umzubringen. Es ist aus mit
ihm; er hat verspielt – ein wunderlicher, ein lächerlicher,
wenn auch rührender Messias-Prätendent.
Nun geschieht etwas Unerwartetes: Eine Frau tritt ein, eine
Unbekannte. Woher kommt sie? Wie konnte sie ohne männliche
Begleitung hierher kommen? Wie kann sie es wagen, unangemeldet
hier einzudringen? Sie hat ein Gefäß aus Alabaster mit
Nardenöl. Das ist eine seltene Kostbarkeit. Es wird aus der
Narde gewonnen, einer im nördlichen und östlichen Indien
beheimateten Pflanze. Es verbreitet besonderen Wohlgeruch. Die
Unbekannte bricht das Fläschchen auf und gießt das Öl über dem
Kopf Jesu aus. Den Jüngern schießt es durch den Kopf: D a s
ist die Salbung! Jetzt wird Jesus einmal wie ein König behandelt. Aber das kann nicht sein – hier, am Ort der
Krankheit und des Elends? Es paßt nicht. Übrigens scheint es
sich um eine begüterte, eine vornehme Frau zu handeln; sonst
könnte sie sich das teure Öl nicht leisten. Doch wozu ist sie
gekommen? Will sie Jesus verhöhnen? Ist, was sie tut, nicht
eine Parodie der Königs-Salbung? Ist es nicht eine ungeheure
Frechheit?
Allein das sagen die Jünger nicht. Sie wagen nicht, es zu
sagen. Das hieße ja, ihre Enttäuschung einzugestehen, von der
sie so überwältigt sind, daß sie darüber nicht sprechen
können. Daher verlegen sie sich – unbeholfen, durchsichtig
genug – auf die wirtschaftliche Vernunft: Man hätte das Öl
verkaufen und den Erlös den Armen geben können.
Und nun die Antwort Jesu: „ Was sie an mir tat, war eine
schöne Handlung – eine Wohltat.“ Darauf das unvergeßliche
Wort: „Arme habt ihr allezeit und könnt ihnen Gutes tun; mich
aber habt ihr nicht allezeit.“ Damit rührt er an ihre Ahnung,
daß sie ihn sehr bald verlieren werden. Er rührt an ihre
Angst, die sie soeben hinter wirtschaftlicher Vernunft
verbergen wollten und damit um so deutlicher zum Ausdruck
brachten. Jesus stellt mit seinem Verständnis die Brücke zu
ihnen wieder her.
Doch wodurch hat ihm die Handlung der Unbekannten so
wohlgetan? Es liegt am Nardenöl. Es kommt in der Bibel außer
an dieser und der parallelen Stelle im Johannesevangelium nur
im Hohen Lied vor. Das Hohe Lied ist eine Sammlung von
Liebesliedern. Dort findet sich das Wort an zwei Stellen, die
erste im ersten Kapitel Vers 12: „Solange der König bei seiner
Tafel weilte, verströmte meine Narde ihren Duft.“ So spricht
die Freundin des Königs. Ähnlich die zweite Stelle in cap. 4,
12 – 14; dort spricht ein junger Mann über seine Braut: „Ein
verschlossener Garten (hortus conclusus – diese Stelle wurde
später auf Maria, die Mutter Jesu, bezogen – man sieht sie in
diesem Sinne auf vielen Bildern des Mittelalters und der
Renaissance im Paradiesgarten sitzen; das berühmteste Beispiel
ist von Stefan Lochner und befindet sich im Kölner Dom), ein
verschlossener Garten ist meine Schwester, Braut, ein
verschlossener Brunnen, ein versiegelter Quell. Aus dir gehen
hervor ein Hain von Granatbäumen mit köstlichen Früchten,
Hennasträucher samt Nardenkräutern, Narde und Safran,
Gewürzrohr und Zimt samt allen Weihrauchhölzern, Myrrhe und
Aloe samt allen besten Balsamsträuchern.“ Die unbekannte Frau,
die in das Haus des Simon eindringt, verweist mit dem Nardenöl
auf das Hohe Lied. Sein Duft zeichnet Jesus als König aus.
„Solange der König bei der Tafel weilte, verströmte meine
Narde ihren Duft.“ Und sie selbst gleich dem verschlossenen
Garten, in dem die Narde wächst – sie gleicht der Braut, von
der das Hohe Lied spricht. Mithin ist klar: Ihre Tat ist eine
Handlung der Liebe, und sie zeichnet Jesus damit als König
aus. Es ist ihre Liebe, durch die er zum König wird. Ja, er
ist dennoch König, nicht so, wie die Jünger ihn haben wollten,
die nun enttäuscht sind, sondern wie die Liebe ihn sieht, die auch jetzt nicht enttäuscht ist. Es war nicht der Hohe
Priester, sondern die Liebe einer Frau, die Jesus zum König
gesalbt hat. Immer wenn man von Jesus als dem ‚Christus’, d.
i. der Gesalbte, spricht, wird man dieser Frau gedenken.


Doch somit zurück zur Traurigkeit, denn Jesus sagt: „Sie hat
die Salbung meines Leibes zum Begräbnis vorweggenommen.“ (v.
8) Nun steht es so, daß die Juden ihre Toten zur Bestattung
nicht einbalsamieren, sondern nur waschen. Einzig Könige
konnten bei ihrem Begräbnis noch einmal durch Salbung
ausgezeichnet werden.1 Somit ergibt sich: Auch wenn die Salbung
auf den bevorstehenden Tod Jesu und seine Bestattung bezogen
wird, zeichnet sie ihn zugleich als König aus. Wenn man Jesus
mit den Augen der Liebe ansieht, so wird er durch seinen Tod
nicht als König widerlegt. Wie ist das zu denken? Worin liegt
die königliche Würde, die auch durch den Tod bestätigt wird?
Es ist die Würde, die nur die Liebe sehen kann. Sie wird um
seinen Tod trauern nicht weniger als die Jünger, aber ihr Bild
von ihm wird nicht durch Enttäuschung entstellt und verdunkelt
werden, daran hindert es die Liebe, d. i. die genaue
Empfindung seines Wesens. Sie wird um ihn trauern, aber ihn
nicht aufgeben, ihre Traurigkeit wird nicht in aggressive
Gedanken umschlagen, nicht in jene Vorwürfe und
Verdächtigungen, die sagen: Er hat uns an der Nase
herumgeführt, er hat die Hoffnung in uns erweckt, der neue
König zu sein, und nun hat er verloren, woran sich ja zeigt,
daß er ein Betrüger war. Das sagt die Liebe nicht, sondern:
Sein Tod widerlegt ihn nicht, mein Bild von ihm wird dadurch
nicht verstört, denn meine stärkste auf ihn bezogene
Empfindung besagt, daß er sich treu geblieben ist bis zuletzt.
Er hat ja noch am Kreuz Gott angerufen – zu sich
zurückgerufen.
Liebe Gemeinde, ich glaube, wir dürfen schließen: Daß wir die
Erinnerung an diese Unbekannte haben, ist unendlich viel wert.
Auch darin dürfen wir Jesus recht geben, der sagte: „Wo immer
in der ganzen Welt das Evangelium verkündigt wird, wird auch
erzählt werden, was sie getan hat, zu ihrem Gedächtnis.“
(v. 9) Nur die Liebe kann uns vorbehaltlos von einem anderen
Menschen überzeugen. Nur die Treue zu Gott kann uns
vorbehaltlos – trotz unserer Sterblichkeit – von unserem Leben
überzeugen. Die Liebe zu den Menschen und die Treue zu Gott
gehören zusammen. Amen.

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1 Cf. II Chr 16, 14 und den Artikel „Anointing“ in der Encyclopaedia
Judaica.

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Nachbesinnung


Die Predigt rief in einigen ihrer Hörer „Entsetzen“ hervor.
Eine Dame verließ bei währender Predigt die Kirche. Eine
zweite gab mir am Ausgang knapp Hand, sagte: „Die
Psychologisierung war unangemessen und dilettantisch!“ und
entschwand. Eine dritte wandte sich mit hochrotem Kopf an mich
und zeigte sich „entsetzt“ über die Art, wie die Predigt
Schuld und Krankheit zusammenbringe. Ihr Entsetzen werde von
weiteren HörerInnen geteilt. Ich wies sie darauf hin, daß ich
ausdrücklich nicht von „moralischer Schuld“ geredet hätte.
Damit war sie aber nicht zufrieden: „Ich versteh’s noch
nicht!“ Beim Nachgespräch mit Frau Nowak und Herrn Niemeyer
schlug dieser vor, die Predigt ins Internet zu stellen, damit
man sie nachlesen könne.

  1. Zu der Kritik der „Psychologisierung“: Damit kann m. E.
    nur die Übersetzung der Art, wie der Text die Krankheit
    des jungen Mannes schildert, in den modernen Begriff des
    Autismus gemeint sein. Diese Übersetzung wurde mir
    geradezu zwingend dadurch nahe gelegt, daß im Text von
    einem „sprachlosen Geist“ die Rede ist, der den
    jungen Mann in epileptische Anfälle treibe. Darin wollte
    ich unmittelbar, was freilich die Hörerinnen und Hörer
    nicht wissen konnten, das Schicksal meines verstorbenen
    Sohnes Julian getroffen sehen. Insofern habe ich die
    Predigt pro domo konzipiert und gehalten. War es
    exegetisch und homiletisch legitim oder unangemessen und
    dilettantisch? Für den speziell autistischen Charakter
    der Krankheit schien mir eben die Fügung pneûma álalon zu
    sprechen – ein sprachloser Geist, wie Luther, anders als
    die Vulgata und etwa die Holy Bible, genau übersetzt. Ist
    das nicht Autismus – die Wirkung eines ‚Geistes’, der den
    von ihm Getroffenen nicht, wie Gott sein Geist, zur –
    schöpferischen – Sprache, sondern von ihr fort treibt? –
    Dagegen kann ausgestellt werden, es werde sonst nicht von
    autistischen, sondern nur von den epileptischen Zügen der
    Krankheit gesprochen. Man könne also sagen, der
    sprachlose Geist komme im Markusevangelium nur als
    Ursache der Epilepsie in Betracht; daher sei die Deutung
    der Krankheit des Knaben auf Autismus unstatthaft. Doch
    wiederum: Kann, muß man sich nicht durch den biblischen
    Hintergrund des Geistbegriffes auf die fast paradoxe
    Schärfe der Fügung „sprachloser Geist“ aufmerksam machen
    lassen? Dies, zumal ich darauf aufmerksam machen möchte,
    daß sie nur dies eine Mal im Markus-Evangelium, im
    gesamten Neuen Testament, vorkommt. (álalos begegnet
    allein nur Mc 7, 37, wo summarisch von der Heilung der
    Tauben und Sprachlosen die Rede ist.) Ein sprachloser
    Geist – ein in sich verkehrter Geist, denn der Geist
    treibt nach seinem biblischen Verstand von sich selbst
    zur Sprache, mithin zur Kommunikation und zur Schöpfung.
    Den Zusammenhang zwischen Schöpfung und Kommunikation
    habe ich in der Predigt berührt. – Und kommt diese
    Bestimmung: ‚ein in sich verkehrter Geist’ (man mag auch
    an Luthers Rede vom ‚homo incurvatus in se’ denken) dem,
    was man unter Autismus versteht, nicht nahe? Ist Autismus
    nicht die Abdichtung des kranken Kindes von Kommunikation
    und mithin von seelischem und geistigem Wachstum?
  2. Gegen die ‚Psychologisierung’ kann auch der
    grundsätzliche Einwand erhoben werden, es handle sich im
    Markusevangelium eben nicht um Psychologie, sondern um
    einen entwickelten Dämonenglauben. Darauf hat schon
    Lohmeyer in seinem Kommentar deutlich hingewiesen. Ich
    glaube demgegenüber, wir können nicht nur, wir müssen den
    Dämonenglauben, wenn wir ihn nicht nur als Aberglauben
    oder Mythologie von uns distanzieren wollen, in unsere
    Sprache übersetzen, und die Sprache, die dem Leben
    zuträgliche Zustände des Geistes, des Gemüts, von
    abträglichen zu unterscheiden gestattet, ist Psychologie.
    Wenn wir uns gegen diesen hermeneutischen Schritt
    entscheiden, bleiben entscheidende Partien des
    Markusevangeliums für uns unverständlich. (Cf. mein Buch
    „Deine Treue hat dir geholfen“ – Studien zur
    Heilungsmacht Jesu und zur apokalyptischen Erwartung im
    Markusevangelium. Frankfurt am Main 2011.) Wir können uns
    dann gar nicht näher bringen, was Jesus tat, wenn er
    heilte. Wir können es nur mehr als übernatürlich
    bestaunen. Ich glaube aber in meinem Buch gezeigt zu
    haben, daß wir damit der Intention des Markusevangeliums
    nicht folgen würden. Ich habe auch in der Predigt darauf
    hingewiesen, daß Jesus die Macht der Heilung keineswegs
    für sich allein in Anspruch nimmt, sondern auch seinen
    Jüngern zumutet (bei ihrer Aussendung). Außerdem: „Alles
    ist möglich dem, der glaubt!“ Damit meint Jesus
    offenkundig nicht nur sich selbst, sondern auch die
    Menschen. Denn der ‚Glaube’ – das Vertrauen, wie die
    „Bibel in gerechter Sprache“ hier übersetzt – ist
    überhaupt die Fähigkeit des Menschen, dem Leben gerecht
    zu werden – im Bund mit Gott.
  3. Zu dem Anstoß, den die Predigt durch die Art erregte, wie
    sie Schuld und Krankheit zusammenbrachte: Ich hatte in
    der Predigt darauf hingewiesen, daß ich mit ‚Schuld’ in
    diesem Zusammenhang nicht ‚moralische Schuld’ meine.
    Freilich kann man fragen, was unter Schuld denn sonst
    noch verstanden werden solle. Als ich sagte: ‚Ich meine
    nicht die moralische Schuld’, dachte ich an die besondere
    Schuld des Menschen vor Gott, die darin besteht, daß er
    sein Leben nicht annehmen kann. Vermutlich bin ich auf
    diesen Sprachgebrauch durch das Gleichnis von den
    anvertrauten Talenten (Mt 25, 14 – 30) vorbereitet
    worden. Ferner kam in meiner Predigt der Satz vor: „Die
    Krankheit ist selbst die Schuld.“ Damit wollte ich
    zugleich klar machen, daß ich die Krankheit nicht als
    Folge der Schuld verstehen will. Sie ist Schuld im Sinne
    der incurvatio in se, der Abwendung von Gott als der
    Macht, die das Leben gibt, der Wendung gar gegen ihn. Ich
    kann abschließend auf Kierkegaards Schrift „Die Krankheit
    zum Tode“ hinweisen; darnach ist die Krankheit zum Tode
    die Verzweiflung, die Weigerung des Selbst, sein
    Verhältnis zu sich selbst als Verfassung seines Lebens
    anzunehmen – daher sein Hang zur Selbstzerstörung.
    Ähnlich und wohl auch davon inspiriert sprach im 20.
    Jahrhundert die Existenztheologie, die Bultmann begründet
    hatte und an der auch Tillich bedeutendes Interesse
    bekundete, von der ‚Sünde’ des Menschen als der Trennung
    von Gott u n d von sich selbst. Cf. in diesem
    Zusammenhang Tillichs späte Schrift „Der Mut zum Sein“
    („The Courage to Be“), in der der biblische Geistbegriff
    elementar und für mich unvergeßlich als Lebensmut
    erläutert wird.