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Predigt · Okuli · 20. März 2010 · Pfarrerin Renate Kersten

Posted on März 15, 2010 in Predigten

Epheser 5, 1 – 8

Liebe Gemeinde,


die Lesungen dieses Sonntags bilden einen starken Kontrast zu dem,
was wir am Anfang des Gottesdienstes bekannt haben: Alle haben
gesündigt. Alle. Ob religiös oder nicht, getauft oder nicht. Ob zur
Nachfolge entschlossen, von Christus hörbar berufen oder nicht. Und
so beten und verstehen wir das Sündenbekenntnis von Coventry. Wie
anders klingt da das Evangelium, so als gebe es ein endgültiges
„vorher“ und „nachher“! Und wie anders klingt da der Epheserbrief!


Ahmt Gott nach als seine geliebten Kinder und liebt einander, weil
auch Christus uns geliebt und sich für uns hingegeben hat als Gabe
und als Opfer, das Gott gefällt. Von Missbrauch und Fremdgehen,
käuflichem Sex und Schamlosigkeit jeder Art oder von Habgier soll bei
euch, wie es sich für Heilige gehört, nicht einmal die Rede sein. Auch
Sittenlosigkeit und albernes oder zweideutiges Geschwätz schickt sich
nicht für euch, sondern Dankbarkeit. Denn das sollt ihr wissen: Kein
unzüchtiger, schamloser oder habgieriger Mensch – das heißt kein
Götzendiener – erhält ein Erbteil im Reich Christi und Gottes. Niemand
täusche euch mit leeren Worten: All das zieht auf die Ungehorsamen
den Zorn Gottes herab. Habt darum nichts mit ihnen gemein! Denn
einst wart ihr Finsternis, jetzt aber seid ihr durch den Herrn Licht
geworden. Lebt als Kinder des Lichts!

Ob das möglich ist? Oder ist dieses lichtvolle Leben Illusion?

Viele Christinnen und Christen der ersten Generationen waren davon
überzeugt, dass ein Leben in Schuld ein für allemal hinter ihnen läge.
Es gab, so wurde gelehrt, eine einzige Buße im Leben: vor der Taufe.
Dann die Vergebung für die ganze sündige Vergangenheit – und dann
das neue Leben. Die Erfahrung lehrte bald, dass aber auch
Christinnen und Christen schuldig wurden, und dass es nicht nur die
kleinen Lieblosigkeiten des Alltags waren, sondern dass auch Getaufte
sich schwer versündigten – Mord, Betrug, Missbrauch, Verrat. Das war
nicht an der Tagesordnung, aber es war unübersehbar, dass es
vorkam. Wie geht das an? Und wie sollen Kirche und Gemeinde damit
umgehen? Kann Gott Menschen, die seine Güte einmal erfahren und
ihn bekannt haben, und die dann wieder schwer schuldig werden,
wiederum vergeben? Ist durch Christus nicht eine ganz neue Zeit, ein
neues Leben angebrochen? Heißt es da nicht: Jetzt aber eine gerade
Furche ziehen? Bruch mit der Vergangenheit, Bruch mit der Welt, die
dem Verderben geweiht ist?
Auch wenn uns die Naivität des Epheserbriefes ziemlich abgeht, so
träumt es sich doch nach wie vor schön von der neuen, christlichen
Welt jenseits der Sünde. Träume von kirchlichen Würdenträgern, heilig
und fehlerlos. Träume von einer Ökokirche, Solarzellen auf jedem
Kirchendach, Bio-Essen in der Kita. Besser, fortschrittlicher und unschuldiger als der Rest der Welt. Jugendliche, die von
evangelischen Schulen abgehen und das Kunststück fertig bringen,
Karriere zu machen in aller Unschuld. Integer. Anständig. Und dann
immer wieder die Enttäuschung, dass wir doch wieder schuldig
werden. Im Kleinen und im Großen. Als einzelne und als Institution
Kirche, der die Schuld in die Poren dringt, immer wieder.


Der Verfasser des Epheser-Briefes hatte den Schwung und die
Naivität des Anfangs. Er ermahnte die Gemeinde in der Zuversicht,
dass es schon so schlimm nicht kommen werde. Er sah die Gemeinde
als den sicheren Hort, in dem alles Mögliche an Bosheit und
Unanständigkeit keinen Fuß in die Tür bekommen darf. Draußen die
böse Welt, drinnen die Kinder des Lichts. Schattenlos. Welch ein
Irrtum! Und er schrieb verhängnisvolle Sätze. Über Sünden wie
Hurerei – also bezahlten oder sonst wie unanständigen Sex –
brauchen wir Christen nicht mal zu reden. Kein Thema. Missbauch –
kein Thema. Gier – kein Thema. Steuerhinterziehung und riskante
Geschäfte – kein Thema. Selbstüberschätzung und Eitelkeit,
Lieblosigkeit und Verantwortungslosigkeit, Verrat – alles kein Thema.
„Davon soll nicht die Rede sein“ – und später: „Darüber auch nur zu
reden, ist schändlich.“ So schafft man ein Tabu.


Wir leben jenseits der ersten Naivität. Wir dürfen nicht schweigen. Und
wir können anders darüber reden als viele andere – weil wir Kinder des
Lichtes sind. Ganz anders können wir mit Schuld umgehen.


Die Unschuldsträume müssen wir dazu loslassen. Niemand von uns ist
unschuldig, niemand von uns wird unschuldig bleiben. Bonhoeffer, der
in unserer Kirche bleibendes Vorbild ist, hat das mit aller Klarheit
gesehen: In der Welt, wie sie ist, gibt es keinen Ort der Unschuld.
Bonhoeffer hat den Gedanken für die eigene Person durchgespielt: Ein
Hitlerattentat wäre natürlich ein Verstoß gegen „Du sollst nicht töten“.
Alles zu lassen, wie es war, wäre Mitschuld am Mord von Tausenden.
Sich einfach herauszuhalten und die eigene Unschuld zu retten, ist in
dieser Perspektive die wahrhaftige Sünde, die völlige
Beziehungslosigkeit. Egozentrik pur. „Ich und meine weiße Weste sind
mir genug.“ So hat Gott den Menschen nicht gewollt.
Erst die Zuversicht, dass Gott mir vergeben kann, gibt die Freiheit,
überhaupt zu handeln, nicht in der Defensive zu leben, immer auf der
Flucht davor schuldig zu werden. Dass er vergibt und auch in Zukunft
bereit ist, uns zu vergeben. Uns und anderen auch. Sätze wie: „Die
haben keinen Anteil an Gott“ stehen uns nicht zu. Das ist Gottes
Sache.


Eine Kirche jenseits der Naivität, jenseits der Unschuldsfantasie weiß,
dass wir Kinder des Lichtes sind – nicht das Licht selbst. Schuld die
Realität dieser Erde. Mitten in unsere Realität ist Christus gekommen.
Vergebung und Heilung: Das ist seine Realität, die Realität der
göttlichen Welt. Er sagt: Fürchte dich nicht! Hab keine Angst, nicht vor
der Sünde und nicht vor deinen Abgründen, nicht vor Tätern und nicht vor Opfern. Nicht davor, dass du Täterin bist und Opfer auch. Es gibt
einen Ausweg. Versöhnung ist möglich.


Miterlebt und nachempfunden haben wir den Weg aus der Schuld oft.
Die Entstehung der Nagelkreuze. Das Stuttgarter Schuldbekenntnis.
Die Versöhnungsarbeit zwischen England und Deutschland, zwischen
Frankreich und Deutschland. Die Arbeit mit den Überlebenden der
Konzentrationslager, die durch Sühnezeichen geleistet wird. Die
Kommission für Wahrheit und Versöhnung in Südafrika. Diese Wunder
sind Geschichte. Das, was noch nicht lange zurückliegt, steht dagegen
wie ein unüberwindlicher Berg. Was näher ans Private reicht, lässt
verstummen. Missbrauch. Vernachlässigung. Die Geschichten derer,
die gebrochen wurden und werden. Vieler, die sich schämen – und
denen nicht geholfen ist, wenn sie vom Opfer zum Mitleidsopfer
werden. Deren Leid jeder Mensch vergrößert, der die Illusion von
Unschuldsräumen und menschlicher Vollkommenheit aufrecht erhält.
Die Kirche kann und muss mit dieser Illusion brechen.


Gibt es das? Gemeinden, in denen Opfer nicht bleibend gebrandmarkt
sind, sondern dazugehören. In denen sich keine Frau, kein Mann, kein
Kind, keine Jugendliche seiner oder ihrer Gewalterfahrung schämen
muss. Wo man sagen kann: Ja, so war es. Es war schrecklich. Aber du hast deine Würde niemals verloren.

Gemeinden, in denen Täter nicht dämonisiert werden. In denen es
möglich ist, umzukehren. Was wäre das für eine Kirche, in der sich
Täter anvertrauen könnten und in der man nach Auswegen suchen
kann! Doch das stark nachgefragte Präventionsprojekt für Pädophile,
die sich wünschen, herauszukommen, kommt nicht von Caritas oder
Diakonie, sondern aus der Charité. Kirche scheint manchmal sprachlos
– oder schuldvergessen?


Kinder des Lichtes, stelle ich mir vor, kennen den Gegner, die Sünde.
Sie wissen, was möglich ist. Sie wissen auch: Es gibt Wege heraus.
Jesus Christus hat die Sünde überwunden. Wenn wir ihm eine Chance
geben, werden wir Worte für Schrecken und bis dahin
Unausgesprochenes finden – und er wird uns helfen, es hinter uns zu
lassen. Er heilt nach wie vor, das ist meine Überzeugung. Deswegen
ist nicht alles einfach. Aber – es gibt den Weg heraus.


Als Gemeinde, als Kinder des Lichtes sind wir Menschen, die Unrecht tun und getan haben, die sich der Welt nicht entziehen. Menschen,
denen auch Unrecht getan wurde. Wir leben in einer Welt der
Verflechtung aller mit allen. Längst nicht jede und jeder ist in Bezug auf
jedes Thema Opfer und Täter. Das ist nicht wahr. Aber jede und jeder
trägt Verantwortung für das Ganze, auch für das kirchliche und
gesellschaftliche Klima. Ob es möglich ist, befreiende Worte und Gesten zu finden, liegt auch an uns.

Gerade das macht unsere „gerade Furche“ aus, von der im
Evangelium die Rede ist. Wir lassen uns nicht dazu verführen, zu
denken, wir seien gut wie Gott. Wir lassen uns nicht vormachen, es
gäbe keine Abgründe und keine Schuld in der Kirche. Wir bleiben uns
dessen bewusst, dass wir die Vergebung Gottes brauchen, und wenn
wir feiern, dann feiern wir nicht unsere Unschuldsleistungen sondern
das ganz große Glück: Dass Gott unter uns ist, uns annimmt und
Schuld und Tränen abwischt. Ein verwegener, mutiger und glücklicher
Glaube.
Er hilft uns, zu ertragen, dass wir mit diesem Glauben heimatlos sein
werden inmitten von Menschen, die sich selbst zu Richtern machen,
die in klarem schwarz-weiß denken. Wir wissen, dass wir schuldig
werden. Dass das eine ernste Sache ist. Dass wir die Vergebung
brauchen. Dass die Welt Versöhnung braucht und dass unzählig viele
Raum brauchen, um zu trauern und zu weinen und endlich zu heilen.


Die Heilung steht bei Gott. Sie ist nicht machbar. Wir können und
sollen daran glauben, dass Gott sie wirkt. Wir wissen mit all unserer
Erfahrung, dass Gott sie uns manchmal nicht erleben lässt.
Ich bin überzeugt davon, dass wir wieder lernen müssen, weiter zu
denken. Weiter in Raum und Zeit, bis über das Erdenleben hinaus. Im
Gotteshimmel, in dem uns der Epheserbrief als Gemeinde schon
wähnt, und den er förmlich auf der Erde festklopfen will, im
Gotteshimmel sind wir noch nicht. Aber uns nur an der Erde festzumachen, an Erfolg hier messbarer körperlicher oder seelischer
Heilung – auch das greift zu kurz.
Ich weiß, dass es auch missbräuchliche, vertröstende Worte von
Jenseits und der Ewigkeit gab. Und dennoch bin ich gewiss, dass wir
uns arm machen, wenn wir nur auf die sichtbare, messbare, greifbare
Heilung setzen, sozusagen auf spirituellen Erfolg. Es gibt ein Jenseits,
das uns unverfügbar ist. Und dort fügt Gott zusammen, was wir nicht
heilen können. Etwas wird in unser aller Leben offen bleiben und sich
erst am Ende lösen. Deswegen üben wir den weiten Horizont ein, der
über dieses Leben hinausgeht (EG 524).


Wir sind Kinder des Lichtes, in all unserer Gebrochenheit. Auf dieser
Erde leben wir im Anbruch seiner neuen Welt. Unsere Aufgabe ist es,
mit seiner Liebe zu rechnen, und jeden Menschen als einen
anzusprechen, dem vergeben werden wird, der geheilt werden wird, weil Gott ihn unendlich liebt.

Die Vollendung liegt allein in Gottes Händen. Amen.